Meisterleistung und Mahnmal

Das für den Fall einer Strommangellage in Rekordzeit erstellte Notkraftwerk Birr ist Ende März definitiv betriebsbereit.

Ja, das ist eine Meisterleistung, obschon das Notkraftwerk nicht wie ursprünglich vorgesehen Mitte Februar, sondern Ende März fertig wird. Denn es sind noch keine sechs Monate her, seit der Bund am 2. September 2022 mit der General Electric (GE) einen Vertrag für die Bereitstellung der Anlage auf dem Fabrikgelände in Birr abschloss. Normalerweise hätte die Verwirklichung dieses Grossprojekts Jahre gedauert. Aber hier wurden mit notrechtlichen Mitteln statt ordentlichen Bewilligungsverfahren und einem bewundernswürdigen Einsatz der beteiligten Firmen in Rekordzeit und für 470 Millionen Franken acht mobile Öl- und Gasturbinen mit einer Gesamtleistung von 250 Megawatt installiert. Sie liefern fünfmal mehr Strom als das Kraftwerk Wildegg-Brugg.

Von der 18 000 Quadratmeter grossen Anlage auf der Nordseite des GE-Fabrikgeländes ist nicht viel zu sehen. Sie wird von einer 200 Meter langen und 20 Meter hohen Lärmschutzwand verdeckt und dadurch vom Wyde-Quartier sowie dem Rest des Dorfes abgeschirmt. Kernstück sind die acht Gasturbinen-Generator-Einheiten.

Dazu kommen eine Wasseraufbereitungsanlage, Energieversorgungs-, Stromverteilungs-, Steuerungs- und Brandschutzeinrichtungen plus drei je 800 Quadratmeter grosse Öltanks mit Eisenbahnanschluss. Zwei Turbinen sind einsatzbereit, bei den restlichen sechs dauert es etwas länger. Grund dafür sind laut dem Bundesamt für Energie (BFE) die umfangreichen Anschlussarbeiten an das Stromnetz.

Vorerst nicht in Betrieb
Das Notkraftwerk soll eine allfällige Stromlücke überbrücken und damit schwere Konsequenzen für die Wirtschaft und die Bevölkerung verhindern helfen. Noch im Herbst wurde befürchtet, die Versorgungssicherheit könnte bereits in diesem Winter wegen des Kriegs in der Ukraine und des Ausfalls russischer Gasimporte sowie des revisionsbedingten Stillstands von fast der Hälfte der französischen Kernkraftwerke gefährdet sein. Dank milder Witterung und weiteren Umständen wie besser gefüllten Gas- und Wasserspeichern hat sich die Lage etwas entspannt. Aller Voraussicht nach wird das Reservekraftwerk vorerst nicht gebraucht. Aber die Versorgungsrisiken sind nicht gebannt; sie dürften im nächsten Winter noch grösser sein.

Das Reservekraftwerk ist nicht nur eine Meisterleistung, sondern auch ein Mahnmal – ein Beweis dafür, dass die Energiepolitik von zu optimistischen oder, anders ausgedrückt: trügerischen Annahmen ausging. So zeigt sich einerseits, dass auf die nötigen Winter-Stromimporte nicht in allen Fällen Verlass ist, und anderseits, dass durch die angestrebte Dekarbonisierung wie den Trend zur Elektromobilität der Stromverbrauch steigt statt sinkt. Um die bis vor Kurzem beschworene 2000-Watt-Gesellschaft ist es recht still geworden.

Aber der Zubau erneuerbarer Energie kommt langsamer voran als angenommen. Selbst wenn der Ausbau nun beschleunigt wird, wie es aussieht, und konsequentes Stromsparen befolgt wird, bleibt es eine enorme Herausforderung, den wachsenden Strombedarf aus Sonne, Wind- und Wasserkraft zu decken – erst recht bei der Stilllegung der Kernkraftwerke. Das KKW Mühleberg, das Ende 2019 mit 373 Megawatt Leistung vom Netz genommen wurde, hat das Winterstromdefizit bereits vergrössert. Den Ausfall vermag auch das neue Reservekraftwerk Birr nicht zu kompensieren. Dennoch soll es bis Ende 2026 wieder zurückgebaut werden.

Damit das temporäre Kraftwerk rasch und rechtzeitig für den Fall der Fälle realisierbar wurde, mussten die Bewilligungspflichten für Planung, Bau und Erschliessung geändert werden. Dazu verabschiedete der Bundesrat am 22. September 2022 zwei Verordnungen, die schon zwei Tage später in Kraft traten. Sie ermöglichten vorübergehende Abweichungen von Vorgaben in den Raumplanungs-, Elektrizitäts- und Rohrleitungsgesetzen. Ebenso wurden Ausnahmebestimmungen zur Luftreinhaltung und zum Lärmschutz erlassen.

Ausnahmen noch und noch
Aus zeitlicher Dringlichkeit verzichtete der Bund auf die öffentliche Auflage des Baubewilligungsgesuchs. Das Departement UVEK bewilligte den Kraftwerkbau mittels Verfügung. Die üblichen Grenzwerte für Kohlenmonoxid (CO) und Stickoxide (NOx) sowie Massnahmen zur Emissionsbegrenzung wurden für eine bestimmte Zeit ausser Kraft gesetzt, um die technisch maximal mögliche Leistung der Anlage nicht zu schmälern. Deswegen wurden auch Bestimmungen auf Stufe Kanton, die den rechtzeitigen Betrieb hätten gefährden können, als nicht anwendbar erklärt.

Da kommt einem der alte Volksspruch «In der Not frisst der Teufel Fliegen» in den Sinn. Angesichts der drohenden Energiekrise – welche Behörden, Bevölkerung und Wirtschaft offensichtlich überraschte – wurden üblicherweise lange Bewilligungsprozesse schlagartig verkürzt – quasi als Gegenbeweis zum bernischen Sprichwort «Nume ned gsprengt». Zwar gab es Beschwerdemöglichkeiten. Gegen die vom UVEK erteilte Baubewilligung gingen drei – davon eine aus Birr – und gegen die Betriebsbewilligung zehn Einsprachen ein. Sie sind noch hängig. Aber weil ihnen die aufschiebende Wirkung entzogen wurde, beeinflussen sie den Fortgang des Werks nicht.

Dreckig und laut, aber nötig
Der Kanton Aargau liess in der Vernehmlassung zu den Bundesmassnahmen keine Zweifel offen, dass das Reservekraftwerk für die Bevölkerung und die Umwelt eine Belastung darstellt. Es verbraucht täglich 1,8 Millionen Kubik Erdgas und stösst 2,77 Tonnen Stickoxide, 6,54 Tonnen Kohlenmonoxid und 3625 Tonnen Treibhausgase aus. Beim Ölbetrieb werden 1540 Tonnen Diesel verbrannt (70 000 Liter pro Stunde) sowie pro Tag 4,84 Tonnen Stickoxide, 2,81 Tonnen Kohlenmonoxid und 4786 Tonnen Treibhausgase emittiert. Das entspricht etwa dem CO2-Ausstoss der Stadt Zürich oder den Emissionen von 50 000 Dieselautos beziehungsweise 2500 Lastwagen während eines ganzen Jahres.

Beim Lärm legte der Bund im Voraus einen Eckwert von 74 dB(A) fest, den er später unter Einbezug der Gemeinde Birr und des Kantons mit lärmmindernden Massnahmen auf 59 dB(A) hinunterdrückte. So wurde eine 20 statt 8 Meter hohe Lärmschutzwand errichtet, und die Kamine der acht Gasturbinen werden noch nachträglich mit massiven Schalldämpfern ausgerüstet. Dafür reichte die Zeit nicht von Anfang an. Laut dem BFE deuten erste Inbetriebnahmetests darauf hin, dass der Lärmpegel unter dem vertraglich garantierten Wert liegen wird.

Trotz den zu erwartenden Belastungen standen der Kanton und die Gemeinde Birr dem Notkraftwerksprojekt nicht ablehnend gegenüber. Der Regierungsrat sah den Aargau als Energiekanton bei einer möglichen Strom- und Gasmangellage in besonderer Verantwortung, aber als Standort eines einzigartigen industriellen und wissenschaftlichen Know-how-Clusters auch für Lösungen geeignet. Im GE-Fabrikkomplex Birr standen bereits grosse Teile für den Betrieb eines öl- und/oder gasbetriebenen Kraftwerks zur Verfügung. Der fossile Energieeinsatz lief der kantonalen Energiestrategie zwar entgegen, aber die Gewährleistung der Versorgungssicherheit hatte Priorität.

In Birr dominiert Wissen
Kritisiert wurde zunächst der Kraftwerksstandort. Gemeinde und Kanton hätten die Anlage lieber auf der Südseite des GE-Gebäudes gesehen, weiter weg vom Wohnquartier Wyde und von der Schulanlage. Doch dort wären die Bauvorbereitungen komplexer gewesen. Während die Bauarbeiten schon im Gang waren, formierte sich Widerstand. Unter anderem organisierte die Klimastreik-Bewegung in Birr eine Demonstration, an der rund sechzig Personen, zu einem guten Teil Auswärtige, gegen das per Notrecht bewilligte Grossprojekt und dessen Betrieb mit fossiler Energie protestierten. Grössere Aktionen vor Ort gab es nicht.

Birrs Gemeindeammann René Grütter führt die mässige Opposition der lokalen Bevölkerung darauf zurück, dass viele Einheimische eine berufliche Beziehung zum ABB- respektive GE-Fabrikkomplex in Birr hatten oder immer noch haben: «Die Leute wissen, was dort fabriziert wird, sie sind mit Gasturbinen-Generatoren vertraut». Der Gemeinderat möchte die schrötige, aber nötige Lärmschutzwand in nächster Zeit von Künstlern verschönern lassen. Entsteht hier also auch noch das grösste Wandbild der Schweiz?

Finanzielle Vergütung zugesichert
Für die Duldung des Notkraftwerks ist der Standortgemeinde Birr eine Vergütung von vier Millionen Franken zugesichert worden – der Vertrag ist aber noch nicht unterschrieben, bis geklärt ist, wer das Geld ausbezahlt. Bei der Abgeltung habe der Kanton der Gemeinde sehr geholfen, sagt Gemeindeammann Grütter. Der Bund sei mit Nachdruck darauf hingewiesen worden, dass Standortgemeinden nach kantonalem Energiegesetz ein Prozent der investierten Bausumme zustehe. Bern gab seine tiefere Entschädigungsvorstellungen rasch auf, weil man im Bundeshaus wohl froh war, dass der energiefreundliche Aargau mit dem Reservekraftwerk einen weiteren Beitrag an die schweizerische Versorgungssicherheit leistet.