Leistungswahn auf der Electric Avenue

Statt sich auf eine möglichst tiefe Umweltbelastung zu konzentrieren, geht es bei der Entwicklung vieler Elektroautos nur um eines: mehr Power. Die Vernunft bleibt dabei auf der Strecke – doch die Käuferschaft scheint dies so zu wollen.
Tesla Model X Plaid. (Bild: zVg)

Mit dem Einzug des Elektromotors kehrt endlich Vernunft ein in der PS-Branche. So oder so ähnlich konnte man das vor Jahren lesen, so haben sich das viele vorgestellt. Doch von wegen. Der E-Antrieb eröffnet den Autoherstellern Möglichkeiten, von denen Leistungs-Tuner früher nicht einmal zu träumen gewagt haben. Und so kam es, wie es fast kommen musste: Statt möglichst umweltfreundliche E-Autos zu entwickeln, überbieten sich die Marken gegenseitig mit immer grösseren Batterien, immer höheren Leistungswerten und mit Beschleunigungszeiten, die einem schon auf dem Papier den Atem rauben. Das alte PS-Wettrüsten ist neu entfacht und nimmt Dimensionen an, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren.

Ein gutes Beispiel für den neuen Leistungswahn ist der neue Tesla Model X Plaid, ein Familien-SUV mit sieben Plätzen und bis zu 2614 Liter Kofferraumvolumen. Doch beim Druck auf das Fahrpedal bricht die Hölle los: Der fünf Meter lange und knapp 2,6 Tonnen schwere Koloss spurtet mit seiner Leistung von 750 kW/1020 PS los, dass es einem die Eingeweide ins Rückgrat presst. Null auf hundert in 2,6 Sekunden! Da verschieben sich Raum und Zeit. Noch vor wenigen Jahren haben selbst die teuersten Hypercars der Welt nicht mal annähernd solche Werte erreicht – heute können Familienkutschen auf dem Drag Strip mit hochgezüchteten Nitro-Boliden mithalten.

Was kommt als nächstes – beamen?
Der Tesla ist aber längst nicht zuvorderst in der Performance-Liste – als Familienauto ist er nur ein besonders illustratives Beispiel des neuen Leistungswahns. Elektrische Hypercars sprengen den Rahmen dessen, was man noch vor wenigen Jahren für machbar hielt. Der Rimac Nevera, der mit vier E-Motoren eine Leistung von 1407 kW/1914 PS generiert, katapultiert sich in 1,85 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h. Noch schneller ist der Aspark Owl, der für den Paradespurt nur 1,69 Sekunden benötigt; in diesem Bereich sind Zehntelsekunden Welten. Wohin die Reise gehen kann, zeigt der Prototyp McMurtry Spierling, der sich in unter 1,5 Sekunden auf Tempo 100 schiesst. Was kommt danach – beamen?

Natürlich ist es faszinierend, was der E-Antrieb für Möglichkeiten bietet. Riesige Pick-ups wie der Rivian R1T können wie Panzer auf der Stelle wenden – ein Motor pro Rad macht es möglich. ­Irrwitzige Power per Software, horrende Beschleunigung mit ein paar Code-Zeilen – dass das für die Autohersteller verlockend ist, ist nachvollziehbar. Voraussetzung dazu sind aber grosse Batterien, denn die Batteriekapazität ist massgebend für die Leistung der E-Motoren. Doch grosse Akkus sind schwer, also braucht es wiederum viel Leistung, um mit dem hohen Gewicht auf gute Fahrwerte zu kommen. Ein Teufelskreis.

Doch sogar das bringt Vorteile mit sich: Da die schweren Batterien flach im Fahrzeugboden angebracht werden, ist der Schwerpunkt der E-Fahrzeuge sehr tief – so können auch Schwergewichte leichtfüssig bewegt werden. Auch, weil sich die Antriebskraft der oft mehrmotorigen E-Autos stufenlos von Achse zu Achse, von Rad zu Rad verteilen lässt. Die heutigen Power-Stromer können also nicht nur enorm schnell beschleunigen, sie lassen sich auch flink um Kurven jagen und sind dabei vergleichsweise einfach zu kontrollieren. So viel Leistung erfordert zwar teurere Fahrwerkskomponenten, damit die Power auf die Strasse gebracht und im Zaun gehalten werden kann, was zusammen mit den teuren Batterien die Preise der E-Autos weiter nach oben treibt. Wie die Verkaufszahlen zeigen, ist die Kundschaft aber gerne bereit ist, das zu bezahlen.

Es geht auch vernünftig
Die Autohersteller bauen, was die Kunden wollen – diese alte Regel kann natürlich auch auf die neuen Elektroautos angewendet werden. Andererseits können die Kunden nur kaufen, was die Autohersteller anbieten. Würden nur vernünftige Elektroautos angeboten, die nicht auf möglichst viel Leistung, sondern auf ein tiefes Gewicht, einen niedrigen Verbrauch und damit auf eine möglichst kleine Batterie setzen, wäre die Elektromobilität nicht nur faszinierend, sondern auch deutlich umweltfreundlicher.

Es gibt tatsächlich auch vernünftige Beispiele. Der Dacia Spring, um wieder ein besonders illustratives Beispiel zu erwähnen, wiegt nur knapp über eine Tonne und kommt deshalb mit einer kleinen Batterie mit einer Kapazität von nur 27,4 kWh sowie mit einer Leistung von 33 kW/44 PS aus. Bis der Mini-SUV damit auf 100 km/h beschleunigt hat, vergehen fast 20 Sekunden. Auf dem Drag Strip ist das natürlich lächerlich. Für den Alltagsgebrauch reicht das aber allemal.

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Rimac Nevera.

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Aspark Owl.

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Rivian R1T.

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Dacia Spring. (Bilder: zVg)

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