Wenn die Spielsachen in die Ferien gehen

Hüttenbauen und Rollenspiele statt Bäbi- und Bastelecke: Seit den Sportferien läuft das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten» – mit Erfolg.
Nadine Pierdomenico liest die Postkarte vor, die aus dem Tessin kam. (Bild: is)

Kurz vor dem Mittag ruft Nadine Pierdomenico die Kinder in den Kreis. Sie hat eine Überraschung: «Wisst ihr, wer uns geschrieben hat?», fragt die Kindergärtnerin in die Runde und zeigt eine Postkarte aus dem Tessin. Die Kinder ahnen es schon: die Spielsachen. Die sind nämlich seit ein paar Wochen in den Ferien. «Es geht uns sehr gut hier», schreiben die Puppen aus dem «Bäbiegge» und erzählen auf der Karte, was sie im Tessin so erleben. Gespannt hören die Kinder zu und freuen sich. Dann pinnt Nadine Pierdomenico die Postkarte an eine Wand, wo schon Grüsse von den Bastelsachen aus Mallorca und von den Büechli aus dem Säntispark hängen. 

Seit Ende Februar läuft im Kindergarten Tegerfelden das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten», das von der Suchtprävention Aargau angeboten wird. Dabei werden die Spielsachen gemeinsam mit den Kindern für zwei oder drei Monate in die Ferien geschickt. Darunter fallen alle vorgefertigten und strukturierten Spielsachen, die von Erwachsenen für Kinder entwickelt wurden – Puppen, Spielküchen, Mal- und Bastelsachen, Spielzeugautos oder Gesellschaftsspiele. Zurück bleibt sogenannt «unstrukturiertes Material», das Phantasie und Kreativität der Kinder anregt. Ziel des Projekts ist es, dass Kinder Mut, Autonomie und Selbstwertgefühl gewinnen – kurz: Die spielzeugfreie Zeit stärkt die Lebenskompetenzen der Kinder.

Rebellion der Schere
Wie aber vermittelt man den Vier- bis Sechsjährigen, dass sie nun mehrere Wochen auf ihre geliebten Spielzeuge und -orte verzichten müssen? Rebecca Albrecht, Kindergärtnerin in der unteren Etage, hat das spielerisch gelöst und eine Rebellion der Spielzeuge inszeniert. «Die Schere bekam Augen und Arme und hat sich dann eines Morgens im Kreis beschwert, warum immer nur die Kinder in die Ferien dürfen und sie nicht auch», erzählt Albrecht. Das leuchtete den Kindern ein, und sie durften jeden Tag demokratisch bestimmen, wer nun in die wohlverdienten Ferien darf und an welche Feriendestination es gehen soll. Dabei hätten die Kinder strategisch überlegt, womit sie nicht so gern spielen, hat Rebecca Albrecht beobachtet. Gemeinsam wurden diese Spielsachen dann in einen Karton gepackt und weggeschickt.

Gleichzeitig werden die Rituale im Kindergartenalltag – etwa die Begrüssung im Morgenkreis – Schritt für Schritt reduziert und schliesslich abgeschafft. Auch das Aufräumen steht, je nach Lehrperson, nicht mehr im Vordergrund. Während bei Rebecca Albrecht täglich weggeräumt werden muss, was nicht verbaut ist, räumt Nadine Pierdomenico nur noch freitags vor dem Turnen mit den Kindern auf.

Der Phantasie freien Lauf lassen: Der vorübergehende Alltag im Kindergarten ist bunt, fröhlich und laut. (Bild: is)

Anarchie im Kindergarten?
Auch das Znüni dürfen die Kinder einnehmen, wann und wo sie wollen. Ebenso dürfen sie nach Lust und Laune draussen und drinnen spielen.  «Momentan ist es bei uns sehr laut, aber das muss man als Lehrperson auch aushalten», sagt Nadine Pierdomenico. Herrscht nun Anarchie im Kindergarten? Nein: Spielzeugfrei heisst nicht regelfrei. Zwar sind die Lehrpersonen nicht mehr in der Rolle der Leiterinnen und dürfen den Kids keine Inputs geben, sondern werden immer mehr zu Coaches, die beobachten. «Aber natürlich nehmen wir unsere Aufsichtspflicht jederzeit wahr. Sobald die körperliche oder emotionale Sicherheit ­gefährdet ist, greifen wir selbstverständlich ein.» Etwa, wenn ein Kätzchen auf ein wackeliges Kallax-Regal klettern möchte oder Superhelden allzu heftig miteinander kämpfen.

In der Regel sollten die Kinder aber Konflikte selber lösen. Wer ein Problem hat, läutet die Glocke und setzt sich auf den blauen Stuhl. Dann kommen die anderen Kinder dazu, das Kind erklärt sein Problem, und alle suchen gemeinsam Lösungen. «Am Schluss darf das Kind auf dem blauen Stuhl entscheiden, welcher Lösungsvorschlag ausprobiert wird», erklärt Rebecca Albrecht. Ein Lern­effekt des Projekts sei auch, dass Kinder lernen, ihre Gefühle zu regulieren, was ihnen auch als Erwachsene zugutekommt.

Ein Geschenk für «Frau Albrecht» – eine Schachtel voller edler Tücher. (Bild: is)

Fast täglich Katzengeburtstage
Anstatt Puppen zu schöppeln oder mit Autos Rennen zu fahren, spielen die Kinder nun anders: Sie bauen Hütten und Parcours, Kugelbahnen und «Tischbomben». Sehr beliebt sind Rollenspiele aller Art: «Die Kinder spielen Familie oder Restaurant, und das Thema Katzen zieht sich seit Anfang durch. Ich werde fast täglich an einen Katzengeburtstag eingeladen», lacht Rebecca Albrecht. Sie freut sich auch, wenn die Kinder Glasperlen und Klämmerli nach Farben sortieren. «Denn auch Langeweile muss ein Kind aushalten lernen, und manchmal entstehen daraus sehr kreative Dinge.» Damit auch die Eltern informiert sind, was im «Chindsgi» in dieser Zeit läuft, fertigt sie jede Woche eine Kindergartenzeitung an, welche die Kinder nach Hause bringen dürfen.

Die Bilanz der Lehrerinnen ist durchwegs positiv. «Zurückhaltende Kinder lernten, auf andere zuzugehen und Anschluss zu finden», findet Rebecca Albrecht. Nadine Pierdomenico, die bereits zum zweiten Mal beim Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten» mitmacht, ist begeistert: «Die Kinder werden selbständiger und kreativer – eine geniale Sache, gerade in Zeiten von Handy und Tablet.»

Auswertungsrunde mit Smileys
Wie finden die Kinder den «neuen» Kindergarten? Am Ende des Halbtags können sie im Kreis auf einer Tafel mit einem bunten Stein denjenigen Emoji markieren, der ihre Stimmung widerspiegelt. Fast alle Steine landen beim grünen, lachenden Smiley, einzelne im «roten» Bereich – und auch das ist okay und wird kurz besprochen.

Und die Spielsachen? Sie kehren bis zu den Frühlings­ferien nach und nach zurück. So langsam vermissen sie die Tegerfelder Kinder, wie die Puppenecke auf ihrer Postkarte schreibt: «Wir freuen uns wirklich sehr, euch alle bald wiederzusehen!» 

www.spielzeugfrei.ch