Jugendliche zu Autonomie befähigen

Im Zeitalter von Social Media die Kreativität von Jugendlichen anregen: Jugendarbeiter Andy Keller über seinen zeitlosen Beruf.
Andy Keller ist Co-Leiter der Jugendarbeit in Wettingen. (Bild: isp)

Das Haus an der Schartenstrasse 40 ist die Schaltstelle der Jugendarbeit Wettingen (JAW). Oberstufenschülerinnen und -schüler besuchen dort den Mittagstisch Tiramisu. 24 sind es momentan. «Vor elf Jahren, als ich hier angefangen habe zu arbeiten, war das weniger ein Thema», erzählt der Leiter der JAW, Andy Keller. Damals hätten sechs bis acht Jugend­liche Mittagessen und Betreuung gebraucht.

Seit 2018 besteht im Aargau das Gesetz, dass Gemeinden eine Tagesstruktur anbieten müssen, wenn eine Nachfrage da ist. Die Gesellschaft hat sich verändert. Viele Frauen arbeiten heute Teil- oder Vollzeit. Der Weg zu gleicher Arbeitsteilung zwischen Eltern ist in den meisten Familien aber noch lang. Nicht so bei Keller: Der 42-Jährige entschied sich bewusst, sich umschulen zu lassen, um mehr Zeit mit der Familie zu haben. Vom gelernten Polymechaniker zum Erlebnispädagogen mit einem Weiterbildungsmaster (MAS) in Sozialmanagement: «Ich wollte kein Feierabendpapa sein.» Gemeinsam mit seiner Frau teilt er sich Erwerbs- und Hausarbeit zu je fünfzig Prozent. Mittwochs besuchen seine einjährige Tochter und sein sechs Jahre alter Sohn die Kita.

Selbstständigkeit lernen
Keller liegt viel an gesellschaftspolitischen Themen. Noch mehr am Herzen liegt ihm aber die direkte und persönliche Beziehung zu den Jugendlichen. Vertrauen ist in seinem Beruf eine wichtige Grundlage. Ein Beispiel: die Vermietung eines Raums an eine Clique. In einem ersten Schritt lernen Keller und sein Team die Gruppe kennen. Ein Vertrag mit den Eltern wird abgeschlossen. Daraufhin darf die Clique während der Öffnungszeiten «ihren» Raum einrichten. Die Gruppe bekommt auch einen Schlüssel, wenn das Team der Jugendarbeit nicht da ist. Bedingung: Sie muss den Schlüssel in den Briefkasten legen und davon ein Video schicken. So sehen Keller und sein Team, um welche Uhrzeit die Jugendlichen das Haus verlassen haben. «Unter der Woche dürfen sie bis 23 Uhr, am Wochenende bis 24 Uhr hier sein», erläutert der Leiter.

Läuft alles glatt, bekommen die Jugendlichen über den Schlüssel­tresor ständig Zugang zum Haus. Und wenn sie die Hausordnung verletzen? «Dann geht es wieder zurück zu Schritt zwei, wo wir die Schlüssel­abgabe kontrollieren.» Ziel der JAW ist, dadurch die Autonomie der Jugend­lichen zu fördern.

Dem dient ebenfalls der Kiosk im Jugendtreff, wo Hotdogs und Getränke verkauft werden. Am Anfang laden die Jugendarbeitenden die Jugendlichen ein und organisieren den Betrieb selbst. Aus Interessierten entsteht dann im Idealfall eine Betriebsgruppe, die Bestandsaufnahmen macht und die Kasse betreut. Dafür gibt es eine kleine Entschädigung, und die Jugendlichen sehen, dass ihr Handeln praktische Auswirkungen hat. Natürlich stehen Keller und sein Team den Jugendlichen nötigenfalls unterstützend zur Seite. «In der Schule klappt auch nicht alles auf Anhieb. Wir sind hier, um zu helfen», bestätigt der Jugendarbeiter.

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Bei der JAW können Jugendliche ihre Kreativität ausleben. (Bilder: zVg)

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Das Resultat lässt sich sehen.

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Beim Oberstufentreff geht es manchmal ausgelassen zu und her.

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Social Media und Dopaminkick
Durch Social-Media-Plattformen wie Tiktok seien Jung und Alt einem ständigen Dopaminkick ausgesetzt, stellt Keller fest. Alles müsse schnell gehen, die Belohnung sofort eintreffen, und die Jugendlichen würden sich nicht mehr auf eine längere Dauer festlegen. Aber ebenso sind Erwachsene von diesem schnelllebigen Trend betroffen, wie das Vereinssterben zeigt. Das hat die Art und Weise verändert, wie in Wettingen Jugendarbeit betrieben wird: Kurzfristige Projekte sind angesagt. Um den Anschluss zu den Jugendlichen nicht zu verlieren, müssen die Jugendarbeitenden aktiv mit ihnen auf Social Media in Kontakt treten. Ein weiterer Nebeneffekt von Social Media: Langeweile ist ein Phänomen der Vergangenheit. Gerade diese ist jedoch wichtig, damit sich Ideen und Kreativität entfalten können und in der Folge Eigeninitiative entsteht.

Alles ins «Büssli» gepackt
Die JAW ist jedoch nicht nur an der Schartenstrasse oder in der Villa Fluck anzutreffen. Sie ist mit dem Piaggio oder «Büssli» mobil. Alle zwei Monate stattet sie den Pausenplätzen in Wettingen einen Besuch ab und verteilt Flyer. Gemäss dem Motto «Ordnung ist das halbe Leben» ist das Material der JAW stets schön sortiert und geordnet, um jederzeit einsatzbereit zu sein. «In zwei Stunden haben wir alles ins ‹Büssli› gepackt, unter anderem ein Set zum Kerzenziehen, Liegestühle und eine Feuerschale», so Keller. Sogar den Töggelikasten nehmen die Jugendarbeitenden manchmal mit. «Mein Job hält mich jung», stellt der Leiter der JAW abschliessend fest.

Mehr Informationen zur JAW, zum «Tiramisu» und zum Oberstufentreff sowie zur Jubiläumsfeier am 24. Juni, «40 Jahre Villa Fluck», finden sich auf jawetti.ch.