Wallfahrtstunnel

Aus einem Geschichtsbuch des 22. Jahrhunderts: «Weil sich die Menschen lange Zeit nur noch im Auto fortbewegten, mussten auch mobilitätskonforme Wallfahrtsstätten geschaffen werden. Findige Ingenieure erkannten, dass solche am besten durchgängig gestaltet sein sollten, damit der Zu- und Abfluss der Wallfahrer jederzeit gewährleistet ist. So erfand man die Strassentunnel, deren berühmteste den Heiligen St. Bernhard, San Bernardino und St. Gotthard gewidmet waren.

Hierhin also pilgerten fortan Abertausende mit ihren Fahrzeugen in langen Kolonnen zum Tor der Finsternis, um danach zum Tor des Lichts zu gelangen. Diese Wallfahrtsstrecken wurden zu einem völkerverbindenden Treffpunkt von Arm und Reich, Jung und Alt, Einheimischen und Touristen. Das Sprichwort ‹Vor dem Gesetz sind alle gleich› war durch die passendere Wendung ‹Vor dem Tunnel sind alle gleich› abgelöst worden. Eine so bedingungslose Gleichheit unter allen Völkern hätte damals kaum jemand zu erhoffen gewagt.

Zu den Glanzzeiten reihten sich staugläubige Automobilisten auf bis zu 40 Kilometer in Kolonnen ein, nur um dem St. Gotthard, dem San Bernardino und weiteren zu huldigen. Andere Erklärungen für die märtyrerartige Opferbereitschaft fand man nicht. Die Gläubigkeit wurde dadurch verstärkt, dass es sich die Anhänger dieser ‹Benzingrotten› nicht nehmen liessen, gerade in der heissesten Jahreszeit für eine spirituelle Tunnelerfahrung geduldig anzustehen. Das Radio wurde nicht müde, halbstündlich alle Staulängen fromm herunterzuleiern, um den tapferen Wallfahrern seine Ehrerbietung auszudrücken.

Historiker mutmassen, dass diese Strassengrotten erfunden wurden, um den Automobilisten unzählige Schweigeminuten in motorischer Andacht zu ermöglichen. Dieses Ritual wird erst dann ein grandioses Finale finden, wenn das letzte Auto in einer einzigen weltumspannenden Schlange zum Stehen gekommen ist. Dieses Ereignis wird dann vermutlich die Ab-Erstehung genannt.

ernst.bannwart@bluewin.ch