Vom Wirtssohn zum Bundeskanzler

Bundeskanzler Hans Schatzmann war der berühmteste Windischer des 20. Jahrhunderts. Vorletzte Woche jährte sich sein 100. Todestag.
Aus dem leider vor längerer Zeit geschlossenen Gasthof zur Sonne in Windisch stammte Bundeskanzler Hans Schatzmann; eine Tafel am Gebäude erinnert an den berühmten Wirtssohn. (Bild: hpw)

Hans Schatzmann kam am 24. Januar 1849 – ein Vierteljahr nach der Konstituierung des Schweizerischen Bundesstaates, der heutigen Schweiz – in Windisch auf die Welt. Seine hier heimatberechtigten Eltern, Vater Isaak Schatzmann und Mutter Katherina, geborene Rauber, betrieben zunächst im Ortsteil Oberburg einen kleinen Bauernhof. 1852 ersteigerten sie das günstig gelegene, aber trotzdem serbelnde Gasthaus zur Sonne an der Landstrasse Brugg – Baden, der heutigen Zürcherstrasse. Sie brachten es zusammen mit der Landwirtschaft und einer Fuhrhalterei zu grosser Blüte.

Hans Schatzmann war Bundeskanzler von 1910 bis 1918. (Bild: zVg | Bundeskanzlei)

Der Rat des Nachbarn
In der Nachbarschaft wohnte der einflussreiche damalige Regierungsrat, Ständerat und Oberst Samuel Schwarz, der aus der Mühle in Mülligen stammte. Er soll dem aufgeweckten Buben die höheren Schulen empfohlen haben, «um ebenfalls einmal dem Lande dienen zu können», wie die Windischer Historiker Jürg und Barbara Stüssi-Lauterburg 2016 in einem Essay festhielten. Hans Schatzmann besuchte die Bezirksschule Brugg und die Kantonsschule Aarau. Daran schloss sich das Rechtsstudium in Zürich, Heidelberg, München und Berlin an.

Als 22-Jähriger erwarb Schatzmann das Aargauer Fürsprecherpatent und eröffnete eine eigene Advokatur zuerst in Brugg, dann in Lenzburg. Bald wurde er Gerichtsschreiber sowie Gerichtspräsident in Aarau. Mit 30 Jahren trat er als Bürochef und Sekretär in die Bundeskanzlei ein und wurde vom Bundesrat bereits 1881 zum Vizekanzler gewählt. In dieser Funktion musste Schatzmann den amtierenden Bundeskanzler Albert Gottlieb Ringier während längerer Krankheits- und Kurabwesenheit vertreten. Aufgrund dieser Erfahrung war ihm die Wahl zum Bundeskanzler durch die Bundesversammlung am 16. Dezember 1909 sicher.

Hans Schatzmann war erst der dritte schweizerische Bundeskanzler, aber nach dem Zofinger Ringier schon der zweite mit aargauischen Wurzeln. Und nach ihm folgten bis heute drei weitere Aargauer: Robert Käslin aus Aarau, Oskar Leimgruber aus Herznach und der gegenwärtige Kanzler Walter Turnherr aus Wohlen. Vier von diesen fünf besassen das Maturitätszeugnis der Kantonsschule Aarau. Damit entpuppt sich der Aargau als erfolgreichster «Bundeskanzler-Kanton».

Eine schwierige Epoche
In Schatzmanns Kanzlerzeit wurde 1914 die Reorganisation der Bundesverwaltung abgeschlossen – knapp vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Seine jahrzehntelange Verwaltungserfahrung kam Schatzmann zugute. Er förderte unter anderem die Herausgabe des Bundesblattes auch in italienischer Sprache. Solche Zeichen des Zusammenhalts hatte die Schweiz bitter nötig, denn sie sah sich durch den Ausbruch und die unerwartete Länge des Krieges mit enormen inneren und äusseren Herausforderungen konfrontiert.

In den Anfangstagen des Ersten Weltkriegs im August 1914 verliehen der National- und Ständerat dem Bundesrat einstimmig unbeschränkte Vollmachten. Damit konnte er fortan die Funktionen der Legislative ausüben und selbständig Recht setzen, Massnahmen anordnen, Ausgaben tätigen, die Armee aufbieten und die Verwaltung ausbauen. Diese «Noterlasse», knapp 1600 an der Zahl, überdeckten die geltenden politischen Strukturen und die Verfassung. Die Schweiz befand sich erstmals in ihrer Geschichte als demokratische Republik im Ausnahmezustand.

Ständig traten neue Problemlagen auf, die mit bislang funktionierenden Mechanismen nicht mehr zu lösen waren. Dem kompromisslos geführten Wirtschaftskrieg konnte sich auch die vom internationalen Handel lebende Schweiz nicht entziehen. Die wirtschaftliche Not, insbesondere bei der Lebensmittelversorgung, verschärfte sich. Der neutrale Staat musste sich im Konflikt zwischen den Fronten arrangieren, aber die Deutschschweiz hielt zu den deutschen und die Romandie zu den französischen Nachbarn. Eine Friedensmission des damaligen schweizerischen Aussenministers Arthur Hoffmann geriet zum Desaster; er musste zurücktreten. Das Vertrauen in die Landesregierung schwand. Die Bundesverwaltung und ihr Chef Hans Schatzmann hatten bei wachsenden sozialen und gesellschaftlichen Spannungen die staatlichen Funktionen zu gewährleisten.

Gesunder Menschenverstand
Während seiner neunjährigen Amtszeit arbeitete Bundeskanzler Schatzmann mit dreizehn Bundesräten zusammen: fünf Welschen, einem Tessiner und sieben Deutschschweizern. Unter ihnen befanden sich die beiden langjährigsten und zu ihrer Zeit profiliertesten Bunderäte Giuseppe Motta (1912–1940) von der Schweizerischen Katholischen Volkspartei und Edmund Schulthess (1912–1935) von der FDP. Mit dem aus Brugg stammenden Schulthess verbanden Hans Schatzmann gemeinsame Wurzeln und Heimat.

Auf Ende 1918 reichte Hans Schatzmann, kurz vor dem 70. Geburtstag, seine Demission ein. Aber bevor er das Amt abgab, erlebte er nochmals zwei «Erdbeben».

Am 13. Oktober 1918 nahm das Volk die Initiative zur Einführung des Proporzes bei den Nationalratswahlen an, was die bisherige freisinnige Vorherrschaft brach. Doch drei Wochen später entluden sich die durch die Versorgungs- und Verteilkrise während des Kriegs und die Spanische-Grippe-Welle sowie durch Agitationen aufgestauten Spannungen im Landesstreik. Der Bundesrat reagierte auf den Machtkampf mit einem Truppenaufgebot und Ultimatum an die Streikleitung. Das scharfe Schreiben verfasste Bundeskanzler Hans Schatzmann.

Fünf Jahre nach dem Rücktritt verstarb Hans Schatzmann in Bern am 11. Juli 1923 – am Vorabend des Brugger Rutenzuges – an einem Schlaganfall. Er wurde für seine Verschwiegenheit und Rechtlichkeit, den ausdauernden Fleiss und unermüdlichen Eifer sowie seinen gesunden Menschenverstand gewürdigt. Seine Tochter Marie Schatzmann knüpfte neue Bindungen zur alten Heimat, indem sie den in Brugg geborenen Gymnasiallehrer und Schriftsteller Adolf Vögtlin (1861–1947) heiratete.