«Akademisierung» hat auch Schattenseiten

Die tertiäre Berufsbildung muss sich gegen den Vorwurf behaupten, sie nehme der Wirtschaft Personal weg. Aber nicht nur.
Referentin Laura Polexe von der PH FHNW. (Bild: trö)

In der Schweiz machen immer mehr junge Erwachsene einen höheren Abschluss. Diese Tertiarisierung findet ebenfalls in der Berufsbildung statt und wird – angesichts des Fachkräftemangels tendenziell abwertend – auch als Akademisierung bezeichnet. Deshalb einen Mangel an Berufspraktikerinnen und -praktikern zu beklagen, greift für Laura Polexe allerdings zu kurz. Die Leiterin Services Studium und Lehre an der Pädagogischen Hochschule (PH) FHNW referierte an einer Veranstaltung des Bildungsnetzwerks Aargau Ost und der PH.

Bildungssystem ist im Umbruch
Polexe plädiert dafür, das duale Bildungssystem möglichst komplementär zu verstehen. Natürlich gibt es Konkurrenz, schon auf der Sek-II-Stufe. «Die Berufsbildung versucht alles Mögliche, sie buhlt schliesslich um dieselben jungen Leute wie die Gymnasien und die Hochschulen.» Wer den ein oder anderen Bildungsweg betreten habe, könne ihn allerdings auch wieder verlassen, meinte sie in Bezug auf die Durchlässigkeit des Systems. Hinzu kämen die gesellschaftlichen Megatrends, die bestehende Berufsbilder veränderten, neue Berufe schafften und die Anforderungen an die professionellen Kompetenzen erhöhten. Konnektivität – die Vernetzung aufgrund der Digitalisierung – wälzt ganze Branchen um. Gesund zu bleiben, hat sich zu einem zentralen Lebensziel entwickelt und eröffnet neue Tätigkeitsfelder. Und New Work stellt die klassische Karriere in der Hinter- und die Sinnfrage in den Vordergrund.

Wie die Bildungslandschaft auf diesen fundamentalen Wandel reagiert, wurde rege diskutiert. Ist die Anzahl möglicher Bildungsabschlüsse angesichts der auf dem Arbeitsmarkt gefragten Future Skills wie Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken nicht zu hoch? Würden manche gescheiter einer vertieften Allgemeinbildung und der Förderung von Soft Skills Platz machen?

Die Spezialisierung, gerade auf Stufe Fachhochschule (FH), sei ein Ausdruck des Wettbewerbs und könne tatsächlich einengend wirken, sagte Ursula Nohl als Teilnehmerin der Podiumsdiskussion. Sie ist Prorektorin an der Kantonsschule Baden und dort für die Wirtschafts- und die Informatikmittelschule (WMS und IMS) zuständig. Die Wirtschaft melde allerdings schon an, welche Kompetenzen sie brauche. Ein Beispiel sei die neue Lehre Entwickler/in digitales Business. Das entsprechende EFZ ist gleichwertig wie ein IMS-Diplom.

Eine fehlende Gleichwertigkeit von Abschlüssen an einer FH und einer Höheren Fachschule (HF) beziehungsweise eine «implizite Hierarchisierung» stellt Joël Zbinden, Teamleiter Berufsbildung und Bildungskoordinator im Kantonsspital Baden (KSB), fest. Das führe dazu, dass zum Beispiel Pflegefachpersonen tendenziell lieber auf eine FH als auf die HF setzten, weil ihnen damit mehr Möglichkeiten offenstünden – zum Beispiel, das KSB zu verlassen. Daran ändere auch der Lohn nichts, den man im KSB möglichst ebenbürtig auszugestalten versuche.

Ausbildung muss sich lohnen
Könnte die Einführung des Titels «Professional Bachelor/Master» Abhilfe schaffen? Concetta Beneduce kann der Idee durchaus etwas abgewinnen. Sie ist Rektorin einer HF, der ABB Technikerschule. Eine an das etablierte Bologna-System angelehnte Neubezeichnung könnte dazu führen, dass höhere Berufsabschlüsse besser verstanden und dadurch attraktiver würden. «Wobei ein Studium nicht für alle geeignet ist», gab Beneduce zu bedenken. Ein neues Kombimodell an der ABB Technikerschule mit Präsenz- und Onlineunterricht für gewisse Studiengänge, neben denen man 100 Prozent arbeitet, sei sehr anspruchsvoll.

In Zukunft, so Laura Polexe, werde die «Verwertbarkeit» einer Ausbildung angesichts der Forderung nach lebenslangem Lernen und den damit verbundenen zeitlichen und finanziellen Investitionen immer wichtiger. Auch eine tertiäre Ausbildung muss sich also vermehrt lohnen. Das sei der Fall, nahm ein ICT-Berufsschullehrer im Publikum den Ball auf: Neun Volksschul- und drei bis vier Lehrjahre reichten einfach nicht mehr, um in der heutigen und erst recht morgigen Arbeitswelt zu bestehen.