«Mon cher! Wenn du heimkämest …»

Ein Briefwechsel zwischen Habsburg und Amerika gibt Einblick in die frühere Welt. Die Briefe, die der einstige Hochwächter auf der Habsburg an Verwandte in Amerika schrieb, sind Zeitdokumente.
Journalistin Marianne Spiess hat die Habsburger Briefe subskribiert. (Bild: zVg)

Zu den Hunderten Menschen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist wegen existenzieller Not aus dem Aargau nach Amerika auswanderten, gehörte um 1871 auch Jakob Hummel aus Habsburg. Er verreiste allein. Seine Gattin Anna folgte ihm erst 1887 mit den Kindern Jakob und Arnold nach. Sie liessen sich in Victoria (Texas) nieder. Jakob Hummel starb aber aus unbekannten Gründen mit seinem «vorersten» Kind bereits 1892. Sein Vater Johann Heinrich Hummel (1815–1903) überlebte ihn; er war Hochwächter auf Schloss Habsburg. Die Hochwacht sowie die Pacht der Burg übernahm nach ihm sein Sohn Rudolf Hummel-Riniker (1860–1942), ein Bruder des ausgewanderten Jakob.

Der offizielle Hochwächter stand im Dienst des Kantons, dem die Habsburg seit der Kantonsgründung, 1803, gehörte. Die Aufgabe des Wächters war es, vom Turm aus die Gegend zu beobachten und bei Bränden in umliegenden Gemeinden die Bevölkerung mit Mörserschüssen zu alarmieren. Dafür standen ihm zwei Lärmkanonen zur Verfügung, die noch heute im Schloss zu sehen sind. Dieser Dienst wurde 1908 abgeschafft, weil das auf der Habsburg installierte erste Telefon neue Alarmierungsmöglichkeiten bot.

Schlossherr Rudolf Hummel hielt den Kontakt zur verwitweten Schwägerin Anna in Texas, der das Geld für die Rückkehr in die Heimat fehlte, mit Briefen aufrecht. 20 dieser Schriftstücke – ganz wenige stammten aus anderen Federn – blieben durch schicksalhafte Familienumstände erhalten. Sie kamen nach dem Hinschied des Hummel-Nachfahren Heinz Mattenberger, 2017, auf dem Estrich seines Hauses an der Schlossgasse in Habsburg ans Tageslicht und dank Heidi Gloor Mattenberger, der Witwe des Verstorbenen, in die Hände der einheimischen Journalistin Marianne Spiess.

Berührendes Familienschicksal
Die Autorin transkribierte die Schreiben mit grosser Sorgfalt und veröffentlicht jetzt daraus Zitate als «Habsburger Briefe 1872–1920» in einem von der Druckerei Weibel in Windisch schön gestalteten 169-seitigen Band. Schon im Habsburger Gedenkjahr 2008 liess Marianne Spiess im Buch «Habsburger Dorfgeschichten» Zeitzeugen über deren Jugendjahre während des Zweiten Weltkriegs und den dörflichen Alltag in den Nachkriegsjahren zu Wort kommen.

Nun erhält die Nachwelt vom Briefwechsel Habsburg–Amerika Kenntnis, weil Heinz Mattenbergers Mutter, die legendäre Schlosswirtin Alice Mattenberger, die Adoptivtochter von Rudolf und Elisabeth Hummel-Riniker war. Die dreijährige Alice Louise und ihr zweijähriger Bruder Jean Edmund waren als Halbwaisen nach dem Tod der Mutter, 1904, aus Genf in die Heimatgemeinde Habsburg abgeschoben worden, da ihr Vater Albert Riniker, ein gebürtiger Habsburger, arbeitslos und mit der Versorgung der Kinder überfordert war. Während Jean Edmund, genannt Hans, als Verdingbub bei Bözberger Bauern das schlechtere Los zog, fand seine Schwester beim kinderlosen Schlosspächterpaar liebevolle Aufnahme und Förderung.

Neues aus der alten Heimat
Briefschreiber Rudolf Hummel hielt die Verwandten in Amerika über Jahre hinweg auf dem Laufenden, wie es den Habsburger Angehörigen erging, welche Arbeiten in Haus und Feld anstanden, wie das Wetter verlief und die Ernten ausfielen, was im Dorf und in der Umgebung passierte, wer es zu etwas brachte, zum Beispiel der Habsburger Schulmeistersohn, Landwirt, Redaktor und Notar Hans Werder oder der Ortsbürger und Regierungsrat Johann Friedrich Riniker, wer Glück oder Pech hatte, erkrankte und starb. Kurzum: Es waren Abbildungen des Alltags auf dünnem Briefpapier, die zwar immer einige Wochen brauchten, bis sie die Empfänger per Schiff, Bahn und Fuhrwerk erreichten, aber dennoch als Neuigkeiten aufgenommen wurden.

Die Briefe sind Zeitdokumente, weil sie wichtige Ereignisse zwischen 1872 und 1920 beleuchten – übrigens eine bewegte Epoche für die Region, zum Beispiel wegen der aufkommenden Industrialisierung sowie der Eröffnung der Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden und des Bezirksspitals Brugg. Rudolf Hummel vergass auch nicht, die Einführung der Elektrizität in Brugg, den Ausbau der Wasserversorgung in Habsburg und Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, wie eine Weihnachtsfeier mit internierten Soldaten im Rittersaal der Habsburg, nach Texas zu melden.

Die Auswanderer würden die alte Heimat kaum noch erkennen, wenn sie wieder einmal nach Brugg kämen, schrieb er 1904 nach Amerika. In einem früheren Brief, den der 21 Jahre junge Habsburger Gemeindeschreiber Hans Werder 1872 dem im Jahr zuvor ausgewanderten Jakob Hummel schrieb, klang leise Sehnsucht nach einem Wiedersehen an: «Mon cher! Wenn du nur nächsten Sommer heimkämest. Wir gingen dann miteinander nach Zürich ans eidgenössische Schützenfest!»

Sorgfältige Recherchen
Die Autorin begnügte sich nicht mit der Auslese und der Wiedergabe von Ausschnitten aus Rudolf Hummels Schreiben, sondern sie beleuchtete mit journalistischer Professionalität die Hintergründe der in den Briefen erwähnten Begebenheiten und lieferte weitere Informationen dazu. Etwa wie die Armenfürsorge damals nach dem Heimatprinzip funktionierte oder woraus sich die Dorfübernamen ableiteten oder wie aus Habsburger Taglöhnern Fabrikarbeiter wurden oder wie sich der Kurbetrieb Schinznach-les Bains entwickelte und dessentwegen sogar Schnellzüge in Schinznach-Bad anhielten.

Dazu betrieb Marianne Spiess umfangreiche Recherchen im Gemeinde- und Staatsarchiv, in den Brugger Neujahrsblättern und vielen weiteren Publikationen. Der Verfasserin ist die Tuchfühlung mit Menschen von damals gelungen.

Buchvernissage mit Kurzlesung und musikalischen Intermezzi
Sonntag, 5. November, 17 Uhr,
Rittersaal, Schloss Habsburg