«Es ist für alle ein kleines Experiment»

Für den Badener Einwohnerrat kandidieren 31 Personen aus Turgi. Ratspräsidentin Iva Marelli (Team) erklärt, was für die Neuen wichtig ist.
Die Juristin Iva Marelli (37) führt den Einwohnerrat seit Januar 2022. (Bild: zVg)

Iva Marelli, für die acht zusätzlichen Plätze im Einwohnerrat Baden ab 1. Januar kandidieren 31 Turgemerinnen und Turgemer. Überrascht Sie das grosse Interesse?
Ich finde das toll. Es sind sehr verschiedene Kandidierende. Wir haben uns ein engagiertes neues Quartier angelacht. Es zeigt, dass sich die Turgemerinnen und Turgemer freuen, Teil von Baden zu werden. Gleichzeitig ist ihnen wichtig, dass Turgi eine Stimme im politischen ­Baden erhält. Sie wissen, dass das nur möglich ist, wenn man mitmacht. Ich wünsche mir natürlich, dass es menschlich wie politisch unterschiedliche Leute sind. Am Ende des Tages zählt hingegen vor allem, dass es Leute sind, die Lust haben mitzuarbeiten.

Auffällig ist, dass die SVP keine Liste hat, und mit Daniel Glanzmann tritt ein wichtiger SVP-­Exponent per Ende Jahr zurück.
Ein grosser Verlust für die Badener Politik! Ich bedauere das sehr. Obwohl wir inhaltlich höchst selten gleicher Meinung waren, schätze ich ihn sehr. Mit seiner Erfahrung und seinem Netzwerk war Daniel Glanzmann von allen sehr geschätzt, bis ganz nach links. Ich bin gespannt, wie es ohne ihn wird.

8 von 50 sind neu – wie beeinflusst das den Ratsbetrieb?
Das beschäftigt mich. Man weiss ja, dass die Fluktuation im Einwohnerrat relativ gross ist. Nun kommen acht Neue hinzu, die keine Parlamentserfahrung haben. Es ist wichtig, dass die Neuen gut gebrieft und vorbereitet werden. Man muss sie mit den Abläufen vertraut machen. Es geht um Zwischentöne und Gepflogenheiten. Reglemente und Zuständigkeiten können alle lesen, aber den Groove und den Spirit, diesen sprichwörtlichen Badener Geist, den gilt es weiterzutragen. Das ist vor allem der Job der Fraktionen und ihrer Präsidien. Viele Fraktionen haben ein Gotte-/Götti-System für neue Mitglieder. 

Beschreiben Sie doch den «Groove» im Badener Einwohnerrat!
Ich glaube, dass sich Baden lokalpolitisch mit einer guten Diskussionskultur hervorhebt. Es fallen auch mal harte Worte, aber an sich geht man sehr respektvoll miteinander um. Der Umtrunk nach den Sitzungen hat ebenso einen hohen Stellenwert. Dieser Austausch in informellem Rahmen trägt viel dazu bei, dass es untereinander funktioniert. 

Vom Turgemer Gemeinderat treten alle Bisherigen ausser Gemeindeammann Adrian Schoop an, der sich aus der Kommunalpolitik zurückzieht. Wie schätzen Sie ihre Chancen ein?
Vielleicht lehne ich mich etwas weit aus dem Fenster, aber: Dass sie relativ gute Chancen haben, liegt wohl in der Natur der Sache. Ich finde es toll, weil es ein Commitment derer ist, die sich in der Turgemer Politik bereits auskennen und Knowhow aus Turgi in den Einwohnerrat bringen können.

Von der Exekutive in die Legislative – ein grosser Schritt?
Vor allem ein atypischer, traditionell ist es andersherum. Es ist ein Schritt in eine andere Rolle. Man muss bereit sein, erst den Exekutivhut abzulegen und den Legislativhut aufzusetzen. Ich bin zuversichtlich, dass das reibungslos vonstatten geht, aber es ist für alle ein bisschen ein Experiment. Diese Gremien ticken sehr unterschiedlich. Der Einwohnerrat macht eine wichtige Arbeit, wir haben unsere Formate und Instrumente. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Möglichkeiten, wie der Stadtrat mitgestalten kann.

Konkrete Beispiele?
Unbestritten ist, dass man im Einwohnerrat viel weiter weg von den Mitarbeitenden der Verwaltung ist. Man bekommt die Zwischentöne nicht so mit, hat keine Führungsaufgaben und muss viel weniger konziliant arbeiten. Der Stadtrat ist ein Siebnergremium mit vier verschiedenen ­Parteien, da herrscht eine andere Diskussionskultur als im Rat. Im Einwohnerrat sind die Voten vorbereitet, die Fraktionen nehmen nacheinander Stellung. Spontane Diskussionen entstehen selten.

Baden ist sechsmal grösser als Turgi. Spielt das eine Rolle bei der Umgewöhnung?
Turgi hat die Gemeindeversammlung, sein Parlament ist die ganze Bevölkerung, die an der Gmeind teilnimmt. Doch die Distanz ist trotzdem relativ gross. Einwohnerrat und Stadtrat sind weniger weit voneinander entfernt. Mit diesem Anspruch muss man an die Aufgabe herangehen. Mikromanagement funktioniert hier nicht. Das kann für die Neuen sehr spannend sein.

Wie geht es nach dem Wahlsonntag weiter?
Sobald die Ergebnisse da sind, wird die erste Amtshandlung sein, die neuen Mitglieder zum Jahresendessen des Einwohnerrats am 7. Dezember einzuladen. Dieses ist eine erste Gelegenheit, einander besser kennenzulernen, bevor die Gewählten an der ersten Sitzung am 30. Januar 2024 offiziell vereidigt werden.

Die Gemeinde Turgi wird ab dem 1. Januar 2024 ein Quartier wie ­Rütihof oder Kappelerhof. Wie weit ist der Fusionsprozess?
Mit der Wahl von acht neuen Einwohnerräten ist es nicht getan. Die Vorbereitung lief super, die grosse Arbeit und die Umsetzung laufen jetzt. Turgi soll zudem wie die anderen Quartiere im Parlament vertreten sein. In der Weiten Gasse hat man andere He­rausforderungen als auf der Allmend. Deshalb ist es richtig, dass sie Platz im Rat haben. Gewählt wird jedoch übers ganze Stadtgebiet, hier verändert sich die Verteilung von Mal zu Mal.

2025 wird wieder auf 50 Plätze ­reduziert. Ihre Prognose?
Spannend wird es dann auf jeden Fall, wie bem Spiel «Reise nach Jerusalem»: Acht haben dann keinen Stuhl mehr zum Sitzen. Dass es die eine oder andere Bisherige aus Baden trifft, kann passieren. 

Sie leiten am 5. Dezember Ihre letzte Sitzung als Ratspräsidentin. Mit welchen Gefühlen?
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits werde ich wieder etwas mehr Spielraum und weniger Pflichttermine haben. Andererseits habe ich das Amt sehr gern gemacht und viele spannende Dinge ­erlebt. Das 50-Jahr-Jubiläum des Einwohnerrats war eines der Highlights. Ebenso spannend war der Austausch mit anderen Ratspräsidien aus dem ganzen Kanton. Diese Austausch­gefässe werden mir fehlen. Eine meiner Grundregeln war: Wenn ich irgendwo eingeladen werde und auch kann, dann gehe ich dort hin. Das führte unter anderem dazu, dass ich die Delegiertenversammlung der Schweizerischen Offiziersgesellschaft besuchte. Ich sass beim Abendessen mit jungen Offizierinnen und Offizieren am Tisch, und wir hatten einen schönen Abend, am nächsten Morgen wurde ich Bundesrätin Viola Amherd vorgestellt. Ich habe wenig Ahnung von Sicherheitspolitik, aber der ganze Anlass war eine grosse Bereicherung.

Sie bleiben im Einwohnerrat – etwas ungewöhnlich für eine ­ab­tretende Präsidentin.
Ja, vielleicht, doch ich habe mich entschieden, dass ich noch Lust und Energie für das Amt habe. Ich freue mich, wieder politische Arbeit zu machen – Voten zu schreiben, Vorstösse zu machen, wieder aktiver mitzugestalten.

Was werden Sie hingegen vermissen?
Die Sitzungsvorbereitung mit Stadtschreiber Marco Sandmeier im Yanacocha, immer dienstags vor der Ratssitzung. Marco Sandmeier ist mit seiner unkomplizierten, pragmatischen Art und seinem grossen Know-how für mich und für die Stadt eine zentrale Figur. Mit ihm formale Dinge durchzusprechen, gab mir Sicherheit für die Einwohnerratssitzungen. Den Austausch mit dem Stadtrat und mit Stadtammann Markus Schneider habe ich ebenfalls sehr geschätzt, ich fühlte mich stets sehr gut abgeholt und auf Augenhöhe.

Was konnten Sie während Ihrer zweijährigen Amtszeit nicht wie vor­gesehen umsetzen?
Ich fing an, ein kleines Projekt namens «Bade schafft» zu entwickeln. Dieses sollte den Ratsmitgliedern die Möglichkeit geben, freiwillig Einblicke in andere Bereiche der Stadt zu erhalten. Leider dauerte das Ganze etwas länger, als ich mir gewünscht hätte. Das fuchst mich ein bisschen. Ich hoffe, dass es meine Nachfolgerin Sarah Wiederkehr weiterziehen kann. Einen Versuch wär es wert. Ziel ist, die Arbeit der Verwaltung auf Augenhöhe den Parlamentsmitgliedern näherzubringen, denn wir entscheiden über Stellenanzahl und Aufgaben, wissen aber oft gar nicht genau, was die Verwaltung alles leistet.