«Heute bin ich unheilbar glücklich»

Die Birmenstorferin Francesca Mangano hat die Folgen ihres Autounfalls in einem Essay verarbeitet. Im Buch «Eine Absurdität nach der anderen. Das kann auch dir passieren» nimmt Lehrerin kein Blatt vor den Mund.
Der Garten ist ihr Rückzugsort: Francesca Mangano mit ihrem Buch. (Bild: is)

Es passierte am 18. 8. 2018. «Ein Schnapsdatum, wie man es sich für den eigenen Hochzeits- oder Geburtstag wünschen würde», steht auf dem Klappentext von Francesca Manganos Buch, das vor einigen Wochen erschienen ist. Die Stadtzürcherin, die vor zehn Jahren mit ihrem Mann nach Birmenstorf gezogen war, wollte zum Einkaufen fahren. In Wohlen weckte im Vorbeifahren ein Schild einer Drechslerei ihr Interesse: «Liquidation». Was dann passierte, ist der 44-Jährigen heute noch so präsent, als wäre es gestern gewesen. Sie will auf die signalisierten Parkplätze rechts einbiegen, als ein Lotse auf sie zukommt. «Ich hielt an und drückte den Fensterknopf, um mit ihm zu sprechen. Mein Kopf war leicht nach rechts oben gerichtet.» In diesem Moment prallt ein Auto in ihren Kleinwagen, schiebt ihn 15 Meter nach vorn. Sie habe gesehen, wie ein schwarzer SUV links überholt habe und weitergefahren sei. «Ich dachte, der Fahrer begeht Fahrerflucht. Nach 100 Metern hielt er an und ging dreimal um sein Auto herum, um nach Beulen zu suchen.» Erst dann sei der Fahrer zu ihr gekommen und habe sie aufgefordert: «Steigen Sie aus, Ihnen ist ja nichts passiert!»

Schädel-Hirn-Trauma
Dieser Satz hat Francesca Mangano tief getroffen, es ist der erste in ihrem Buch. «Klar, man sah kein Blut. Aber nach dem ersten Schreck spürte ich Schmerzen an Nacken und Schulter», erzählt sie am Esstisch in ihrem Haus am Hang über Birmenstorf. Das Drama nimmt seinen Lauf: Das Unfallopfer besteht auf einer Ambulanz, die sie ins Spital bringt. Dort fühlt sie sich ebenso wenig ernst genommen: «Nach drei Stunden schickte man mich mit Dafalgan-Schmerztabletten nach Hause – ohne mich richtig untersucht zu haben.» Ein fataler Fehler: Später seien ein Schädel-Hirn-Trauma sowie ein Schleudertrauma festgestellt worden. Zudem habe sie einen Bizepssehnenriss an der rechten Schulter erlitten; «die ganze rechte Seite war beschädigt, und ich musste lernen, links zu schreiben.» Weil die Beschwerden nicht weniger werden, rennt sie von Arzt zu Arzt, doch auch hier: «Niemand nahm mich ernst.» Sie verbringt mehrere Monate in einer Rehaklinik.

Besonders hart trifft die engagierte Berufsschullehrerin, die Literaturwissenschaften, Italienisch und Französisch studiert hat, eine okulomotorische Störung (Augenbe­we­gungsstörung), die ihr das Lesen verunmöglicht. «Ich wurde von einer Sekunde auf die andere aus meinem super Leben geschleudert», sagt sie rückblickend. Das erste Jahr ist Francesca Mangano komplett arbeitsunfähig, im zweiten zu 50 Prozent. Mehrmals wöchentlich ist sie in psychologischer Behandlung. Kurz nach dem Unfall wird sie sogar von der Polizei angezeigt – «Anhalten auf der Strasse ohne Vorwarnung». Eine Absurdität nach der anderen. Die Odyssee nimmt ihren Lauf.

Von der Polizei angeklagt
Der andere Fahrer – gemäss Francesca Mangano ein Aargauer Pfarrer – habe die Unfallstelle durch sein Weiterfahren komplett verändert. Das habe die Polizei zuerst nicht interessiert. «Die Beamten haben vor Ort sehr unsauber gearbeitet. Man hörte mir nicht zu und unterstellte mir mehr als vier Monate lang, dass ich schuld sei am Unfall.» Erst als ihr Anwalt das Polizeiprotokoll mit der Aussage des Lotsen erhält, widerfährt ihr Gerechtigkeit: «Die Staatsanwaltschaft entschied auf Nichtanhandnahme der Anklage, und der Pfarrer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt und zu einer Geldstrafe sowie Ausweisentzug verurteilt.»

Eine Genugtuung ist es nicht. Denn das Unfallopfer hat inzwischen auf vielen Ebenen zu kämpfen – mit dem Arbeitgeber, der Unfallversicherung und im Freundeskreis. «All diese Ungerechtigkeiten nagten sehr an mir. Freunde wandten sich von mir ab. Ich war ganz tief unten, verlor das Vertrauen in die Menschheit und war von grossen Zukunftssorgen geplagt», schildert Francesca Mangano.

Relativ früh ist ihr klar, dass sie ein Buch darüber schreiben würde, sobald es ihr wieder gut gehe. «Es triggerte mich, dass man einen Menschen so auf allen Ebenen kaputt machen kann – und dass das jedem passieren kann», sagt sie: «Gefühle wie Hass und Wut waren mir nicht fremd. Ich dachte mehrmals daran, allem ein Ende zu setzen. Zum Glück stand mein Mann Martin zu mir. Ohne ihn wäre ich heute nicht mehr da …»

Nicht mehr so leistungsfähig
Und heute? Nach fünf Jahren sei sie wieder leistungsfähig, so Francesca Mangano. «Ich kann wieder gut sehen, fahre gern Auto und unterrichte mit noch grösserer Leidenschaft. Einzig der Nacken ist noch nicht ganz gut.» Dennoch spürt sie die Folgen des Unfalls weiterhin. «Früher waren 100 Kilometer mit dem Rennvelo kein Problem. Durch die lange Einnahme von Schmerzmitteln und den Bewegungsmangel habe ich stark zugenommen. Auch mein Immunsystem ist geschwächt.»

Mit dem Trauma der letzten fünf Jahre hat sich Francesca Mangano mittlerweile versöhnt. «Im Wissen, alles überlebt und es fast verarbeitet zu haben, sehe ich: Diese Geschichte gehört zu meinem Leben. Ich habe meinen Frieden gefunden und realisiert, dass es sich nicht lohnt, den Fokus auf die Person zu legen, die Schuld an allem hat.» Bei der Verarbeitung habe ihr das Buch geholfen, das bei vielen Buchhandlungen gelistet ist. Sie nennt darin bewusst keine Namen, könne aber alles belegen. «Es ist keine Fiktion, sondern bittere Realität», sagt sie über ihre Geschichte.

In ihrem Werk hält sie mit Kritik an Behörden nicht zurück. Damit sei es nun aber abgeschlossen. «Ich geniesse den Moment bewusster und schaue ­zuversichtlich nach vorn, unendlich dankbar und unheilbar glücklich.»