Hoch hinaus mit der Welt vor der Linse

In «New Swiss» verpflanzt Michel Jaussi ikonische Bauwerke in Schweizer Land-schaften. Sein Berufswunsch wurzelte in einem Baum.
Ist es das Kapitol – am Davosersee? Ein Foto aus «New Swiss». (Bild: zVg | Michel Jaussi)

Fotograf Michel Jaussi kommt aus Zürich an das Gespräch in Brugg. Nachher wird er zurück nach Oerlikon fahren, wo abends die Vernissage der «Photo Schweiz» stattfindet, der grössten Werkschau für Schweizer Fotografie.

Jaussi stellt dort zum achten Mal in Folge aus. Dieses Jahr präsentiert er seine Serie «New Swiss». Die fünf Fotografien zeigen bekannte internationale Wahrzeichen, die mittels Bildbearbeitung täuschend echt in eindrucksvolle schweizerische Landschaftsbilder und urbane Umgebungen eingefügt sind. Da schmückt der Eiffelturm den Zürcher Sechseläutenplatz, die Freiheitsstatue von New York überragt den Genfersee in Lausanne, das römische Kolosseum thront auf der Höhematte in Interlaken, der nordfriesische Leuchtturm Amrum erhellt das Ufer des Zürichsees in Freienbach und das Kapitol steht nicht in Washington, sondern am Ufer des Davosersees.

Der Fotograf hat die Landschaften mithilfe einer 15 Kilogramm schweren Drohne aufgenommen, danach die Massstäbe und Dimensionen der ikonischen Bauten studiert und sie akribisch genau in die Umgebung eingesetzt, sodass die Grössenverhältnisse wieder 1:1 stimmen. «Es ist als Augenzwinkern gemeint», kommentiert der 51-Jährige das Element der Verfremdung in seiner Arbeit. «Die Fotografien zeigen einen neuen Blick auf die Schweiz, der gar nicht so weit hergeholt scheint.» Der erste Impuls beim Betrachten gilt der künstlichen Intelligenz, «doch damit ist die hohe Bildauflösung von 100 Millionen Pixeln derzeit noch nicht umsetzbar», klärt der Fotograf auf. «New Swiss» entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Bildbearbeiter und CGI-Artisten Patrick Salonen. Man kann die neue Arbeit ausserdem als Hommage an seine Schweizer Heimat verstehen, mit der er sehr verbunden ist.

Michel Jaussi an der «Photo Schweiz» 2024 in Zürich Oerlikon. (Bild: zVg)

Der persönliche Lebensbaum
Kein internationales Bauwerk, jedoch ein regionales oder sogar nationales Wahrzeichen begleitet Michel Jaussi, der seit 22 Jahren in Linn wohnt, persönlich: die Linner Linde. 

Das botanische Hoheitszeichen und die Namensgeberin von Linn, die seit 850 Jahren oder vielleicht noch länger über das Dorf am 722 Meter hohen Linnerberg wacht, ist eines der Symbole des Aargaus. «Sie ist vielleicht auch ein gewisses Vorbild», findet Jaussi.

In der Gaststube seines Zuhauses hängt ein Bildschirm, auf den die Webcam-Aufnahmen der Linner Linde in Echtzeit projiziert weden. So hat er den imposanten Baum jederzeit im Blick und immer um sich, wenn er daheim ist.

Für den Fotografen ist die Linde ein persönlicher Lebensbaum – sie begleitet und fasziniert ihn auf seinem Weg, seit er sie zum ersten Mal gesehen hat. Der alte Baum mit seinem mächtigen Stamm und der ausladenden, runden Krone war es, der das visuelle Sensorium und die künstlerische Intuition des späteren Fotografen weckte. Möglich, dass der prägnante Anblick schon damals an Jaussis fotografischem Fingerspitzengefühl für Landschaft und Weite zupfte, als er die Linde die ersten Male bewusst anblickte; ganz eindeutig aber zog sie ihn magisch an.

Da war er zehn Jahre alt und wohnte in Windisch, dem Ort seiner Kindheit. «Ich sah die Linner Linde von der Chapfstrasse aus am Horizont und ging immer wieder zu ihr», erinnert sich der Fotograf. Der Baum war es auch, der ihm den Weg zu seinem Traumberuf wies. Mit zwölf Jahren stand für Jaussi fest, was er einmal werden wollte: Fotograf. 

Vergänglichkeit als Kunstthema
Einer lebensphilosophischen Tiefgründigkeit konnte sich Jaussi bereits in jungen Jahren schwer entziehen. «Das Thema Vergänglichkeit hat mich früh fasziniert. Ich sah es zudem in der Linde und wollte es festhalten.» In der Auseinandersetzung mit diesem Thema fand er in Prozessen in der Natur eine bild- und symbolhafte Entsprechung. Bis heute zeigt sich das in seiner kreativen Arbeit. «Man kann sagen, dass das Thema Vergänglichkeit so etwas wie mein allererstes Kunstthema war und es auch geblieben ist», reflektiert Jaussi im Gespräch.

In seinen Fotografien lässt sich Tiefgründigkeit in der Betonung des Motivs der Weite erkennen. Die Landschaften des Aargauer Jura mit seinen sanften Hügeln, die sich in der Ferne im Schmelz des Himmels und im Gegenlicht verlaufen, reizen den Fotografen bis heute. «Gerade durch das Gegenlicht wird die Landschaft ex­trem plastisch», erzählt der Fotograf, dessen Leidenschaft offenen, epischen und weitschweifigen Landschaften gilt, über die der Blick mühelos bis zum Horizont fliegt.

Traumberuf wird Wirklichkeit
Mit 16 Jahren begann der auf Fotografie versessene Jugendliche seine Lehre. «In einer Druckerei in Spiez konnte ich in der Fotoabteilung in vier Jahren die klassische Fotografenausbildung machen, die es heute so nicht mehr gibt», erzählt er aus der Zeit, als sein Traumberuf zur Wirklichkeit in der Arbeitswelt wurde. In der Region gab es damals keine Ausbildungsstätte, in der sich der Berufswunsch des jungen Jaussi hätte realisieren lassen können. Die Lehrstellen waren landesweit rar. «In der ganzen Schweiz gab es damals vielleicht 15 Lehrstellen, um die Fotografie zu erlernen – wenn überhaupt», schätzt Jaussi.

Am Tag nach seinem Lehrabschluss unternahm der zielbewusste Jungfotograf mutig seinen nächsten beruflichen Schritt. «Am 10. April 1992 war meine Ausbildung beendet, und seit dem 11. April 1992 bin ich selbstständig.» In Spiez wohnte und arbeitete Michel Jaussi daraufhin weitere zehn Jahre. Die ersten sieben Jahre waren hart, Jaussi widmete sie der Aufbauarbeit.

Auf einem Bild aus der Serie «New Swiss» von Michel Jaussi schmückt der Eiffelturm den Zürcher Sechseläutenplatz. Das Werk wurde an der diesjährigen «Photo Schweiz» ausgestellt – es ist Jaussis Lieblingsbild aus der Bilderreihe. (Bild: zVg | Michel Jaussi)

Die immerwährende Inspiration
Inzwischen ist er seit 31 Jahren selbstständig. Seine allererste Kamera, die er mit 13 Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen hat, befindet sich noch immer in seinem Atelier. «Eine Minolta SRT-303», spezifiziert der Fotograf. Mit der Kamera zog er umher und nahm heimische Gefilde und Natursujets auf. «Mein Traum war es seit jeher, die Landschaft in meine Arbeit einfliessen zu lassen.»

Die grössten beruflichen Erfolge erzielte Jaussi, der als Fotograf beharrlich an seinem Lieblingsmotiv, der Landschaft, festhielt, mit Auftragsarbeiten, bei denen er Bildwelten für Unternehmen umsetzen konnte. Für Grosskunden wie Novartis, Die Schweizerische Post, Banken und Firmen im Ausland realisierte er umfangreiche Bildwelten für die Unternehmenskommunikation. 

In seinen Auftragsarbeiten befinden sich seit 2017 auch Luftbilder. Um sie zu fotografieren, lässt er seine grosse Drohne aufsteigen. Wie in seinen künstlerischen Arbeiten fängt Jaussis Bildsprache dabei den Weitblick über die Landschaft hinweg bis zum Horizont ein. «Wer seine bekannte Umgebung aus der Vogelperspektive sieht, erkennt auf einmal grössere Zusammenhänge», so der Fotograf, der das immer wieder selbst und aufgrund der Reaktionen derer erfährt, die seine Werke betrachten. In der ästhetischen Erhabenheit dieses Weitblicks offenbart sich für Jaussi erst die ganze Epik einer Bildsprache, in der sich die Vergänglichkeit spiegelt. In seinem Schaffen als Fotograf kann er Vergängliches zwar erkennen und festhalten, aber die Vergänglichkeit selbst nicht aufhalten. Das ist nicht das Ziel seines Schaffens. Vielmehr aber die Weite zeigen, die sich offenbart, wenn man bis an den Horizont schaut. Sieht Jaussi von seinem Wohnort aus an die Sichtgrenze des Hügels, erblickt er seine ständige Inspiration. «Dank der Linde von Linn bin ich heute Fotograf.»