Es geht um Prinzip und Sekunden

Bei 30 km/h verlängert sich die Fahrzeit auf der Hauptstrasse kaum 20 Sekunden. Die Gegner finden die Temporeduktion unverhältnismässig.
Auch der öffentliche Verkehr wäre bei der Temporeduktion auf der Hauptstrasse in Hausen nur wenig langsamer, deutet eine Studie des Verkehrsclubs an. (Bild: hpw)

Auf den Quartierstrassen in Hausen gilt seit 2008 Tempo 30. Die Limite besteht sogar an der Holzgasse, welche die grössten Gewerbebetriebe im Dorf erschliesst und eine Ortsverbindungsfunktion von und nach Scherz erfüllt. Mit Ausnahme gelegentlicher Übertreter hat man sich daran gewöhnt. Jetzt steht die versuchsweise Einführung von Tempo 30 auf 600 Metern an der zwei Kilometer langen Hauptstrasse mit sechs Fussgängerstreifen im Ortszentrum und Schulbereich zur Diskussion. Die Tempo­reduktion soll die Schulwege sicherer machen. Aber sie ist umstritten. Sie wurde zwar an der von 219 Stimmberechtigten besuchten Gemeindeversammlung im November mit 130 Ja zu 77 Nein gutgeheissen, aber mit dem Referendum angefochten. Am 3. März kommt es zur Urnenabstimmung.

Freie Fahrt für freie Bürger
In Tempo-30-Vorhaben steckt politischer Zündstoff. Die Meinungen sind geteilt. Auf nationaler Ebene fordert der Städteverband für alle Strassen im Siedlungsgebiet Tempo 30. Dagegen wehrt sich der Gewerbeverband. Skeptisch ist zudem der Verband des öffentlichen Verkehrs; auf Hauptverkehrsachsen müsse Tempo 30 die Ausnahme bleiben, hält er fest. Eine vom Verkehrsclub (VCS) veranlasste Studie kommt aber zu dem Schluss, dass der öffentliche Verkehr mit Tempo 30 nicht viel langsamer unterwegs sei, weil er bei dichtem Haltestellennetz die Tempo-50-Möglichkeit selten ausschöpfe. Der Touring-Club (TCS) hingegen empfiehlt ein differenziertes Geschwindigkeitsregime: nicht generell Tempo 30, sondern am richtigen Ort. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) vertritt klar die These, dass Tempo 30 das Unfallrisiko senkt.

Die Entscheidung liegt letztlich bei den Gemeinden. In mehreren Aargauer Ortschaften werden derzeit Tempo-30-Pläne angefochten. Die Auseinandersetzung mit dem Thema erweckt den Eindruck, als ob hier der Zentralnerv des demokratischen Widerstands gereizt und das Prinzip «Freie Fahrt für freie Bürger» ausgebremst werde. Die Opposition gleicht einer fundamentalen Abwehrhaltung gegen mehr Hürden und Einschränkungen, Gebote und Verbote. Die Gegner finden: «Es reicht.» Punkt. Sie wollen «ein Zeichen setzen». Auf verkehrs- und sicherheitstechnische Erwägungen gehen sie gar nicht gross ein. Ihr Credo lautet: «Nein, nein und nochmals nein.»

Gegner verweigern den Diskurs
Die FDP-Ortspartei Hausen versuchte vor der Referendumsabstimmung eine Podiumsveranstaltung zu organisieren, an der die Pro- und Contra-Standpunkte zu Tempo 30 hätten diskutiert werden sollen. Sie lud die vier anderen Ortsparteien SVP, GLP, Mitte, SP und das Referendumskomitee für eine gemeinsame Durchführung ein. GLP und SP sagten zu. Das Nein-Komitee lehnte die Teilnahme mit der Begründung ab, vor der Gemeindeversammlung habe es genügend Gelegenheiten gegeben, den Stimmberechtigten das Thema an einer Infoveranstaltung zu unterbreiten. Doch der Gemeinderat und die Ortsparteien hätten diese Möglichkeit verschlafen. Jetzt sei es zu spät.

Eine unbehilfliche Kritik
Auch die Ortsparteien von Mitte und SVP, die dem Nein-Komitee nahestehen, weigerten sich, an einer öffentlichen Debatte mitzuwirken – mit der Ausrede, Tempo 30 sei schon an der Gemeindeversammlung erschöpfend diskutiert worden. Wer daraus den Schluss zöge, dass es zur Abstimmung nichts mehr zu sagen gebe, läge allerdings falsch. Ausgerechnet die Gegner eröffneten schon mehrere Wochen vor dem Urnengang die Abstimmungskampagne mit Leserbriefen und Nein-Plakaten. Weil eine Debatte ohne bekennende Skeptiker keinen Sinn ergeben hätte, liess die FDP die Podiumsidee fallen. Jetzt wird die Ausmarchung mit anderen Mitteln geführt. Auf Anregung des Elternforums Hausen beauftragte die Gemeindeversammlung im November 2022 den Gemeinderat, die Verbesserung der Schulwegsicherheit zu prüfen. Er erörterte die Möglichkeiten in einer breit abgestützten Projektgruppe, bestehend aus der Bau- und Verkehrskommission, dem Elternforum, dem Forum 60 plus, dem Verein Pro Velo und der Behindertenstiftung Domino. In Anbetracht dieses pluralistischen Forums wirkt der Vorwurf, der Dialog mit der Öffentlichkeit sei vernachlässigt worden, unbehilflich. Umso mehr, als die Kritik von Gegnern erhoben wird, die sich selbst dem Diskurs entziehen und ausblenden, wie die Bevölkerung in die weitere Bearbeitung des Vorhabens einbezogen wird.

Tempo 30 soll in der zentralen Begegnungszone des Dorfs vorerst in einem einjährigen Versuchsbetrieb getestet werden. Zu Beginn werden der Mitteleinsatz, die Messmethoden sowie die Signalisations- und Markierungsmassnahmen festgelegt. Danach wird der Verkehrsversuch öffentlich publiziert, mit der Möglichkeit für Einwendungen. Während der Testphase wird die Bevölkerung zu den Auswirkungen der Temporeduktion befragt. Abschliessend werden die Erkenntnisse und das weitere Vorgehen mit der Einwohnerschaft diskutiert. Ob der Gemeinderat die endgültige Einführung von Tempo 30 selbst entscheidet – von Rechts wegen hätte er die Kompetenz dazu –, hängt wohl auch davon ab, ob allenfalls zusätzliche budgetrelevante Vorkehrungen nötig wären.

Argumente dafür und dagegen
Den Tempoversuch befürworten das Elternforum und Pro Velo Brugg-Windisch sowie die Ortsparteien FDP, GLP und SP. Zu den Gegnern gehören das Referendumskomitee mit den Ortsparteien SVP und Mitte. Den Befürwortern geht es um die Verkehrssicherheit der 318 Hauser Kinder in Kita, Kindergarten und Primarschule, plus der Oberstufenschüler, die mit dem Velo nach Windisch fahren, sowie der betagten Dorfbewohner und der 60 Personen im Wohnheim Domino. Die Unterstützer weisen auf die bedeutende Verkehrszunahme hin und betonen, weniger Tempo verkürze den Bremsweg, reduziere die Wucht einer Kollision, senke den Lärmpegel, erspare einen künftigen Flüsterbelag und mache den Durchgangsverkehr weniger attraktiv.

Die Tempo-30-Kritiker relativieren den Sicherheitsaspekt mit dem Argument, die Schulwege würden nur zu wenigen, bestimmten Zeiten benützt; im Übrigen habe es in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Personenunfall auf der Hauptstrasse gegeben. (Ältere Dorfbewohner erinnern sich indessen noch an zwei frühere tödliche Kollisionen zwischen Autos mit einheimischen Fahrern und Fussgängerinnen.) Die Gegner stört ausserdem, dass der Gemeinderat in der Vorlage an die Gemeindeversammlung verschwieg, dass er Tempo 30 in eigener Kompetenz verfügen könnte. Der Gemeindeversammlung wurde das allerdings bewusst; trotzdem lehnte sie einen Antrag ab, dem Gemeinderat vorsorglich die Befugnis für den endgültigen Tempo-30-Entscheid zu entziehen.

Eine Frage von Sekunden
Die Gegner bezweifeln die Angemessenheit von Tempo 30, für sie ist die Massnahme unverhältnismässig. Demgegenüber setzen die Befürworter auf die «Macht des Faktischen»: Bei Tempo 50 beträgt die Anhaltestrecke (Reaktionsweg und Bremsweg) 40 Meter, bei Tempo 30 sind es 21 Meter. Natürlich ist auch die Aufprallwucht bei einem Crash mit Tempo 30 wesentlich geringer als bei Tempo 50. Und wie steht es mit dem Zeitverlust, wenn auf 600 Metern Hauptstrasse mit 30 anstatt 50 km/h gefahren werden muss? Laut BfU führt das rein rechnerisch zu einer Fahrzeitverlängerung von 4,8 Sekunden pro 100 Meter. In der Praxis zeige sich jedoch, dass ausserhalb der Stosszeiten nur mit einer Fahrzeitverlängerung von 2 bis 3 Sekunden pro 100 Meter zu rechnen sei. Konkret heisst das, mit Tempo 30 wäre man auf der Hauptstrasse keine 20 Sekunden länger unterwegs.

Alles klar? Nun, in trockenen Tüchern ist die Temporeduktion noch nicht. Denn 372 Stimmberechtigte haben das Referendum unterschrieben – deutlich mehr, als an der Gemeindeversammlung teilnahmen.