«Ich bin verletzlicher geworden»

Nadine Hubler hat sich auf palliative Physiotherapie spezialisiert. Dabei setzt die Windischerin auf Kontinuität und ein vertrauensvolles Netzwerk.
Bewegung in der Natur ist ihre Ressource: Nadine Hubler mit ihrem Hund Iaro beim Spaziergang in Unterwindisch. (Bild: zVg)

Vor 15 Jahren lebte Nadine Hubler in Neuseeland. Gemeinsam mit ihrem damaligen Mann und ihrem zweijährigen Sohn war sie für zwei Jahre nach Übersee gezogen. Sie hatten sich gut eingelebt, das zweite Kind war unterwegs. Doch dann kam alles anders. Kurz nach der Geburt ihres zweiten Sohns packte die junge Familie ihre Siebensachen, verkaufte im Eiltempo Haus und Auto und kam zurück in die Schweiz. Grund war der Gesundheitszustand eines an Krebs erkrankten Familienmitglieds, der sich innert kurzer Zeit drastisch verschlechtert hatte. Nadine Hubler begleitete sie fortan «sehr eng bis zum Tod», wie sie sagt. Diese Erfahrung hat die diplomierte Physiotherapeutin tief bewegt. «Verliert man ein Familienmitglied, ist die therapeutische Professionalität auf einmal weit weg», erzählt sie. «Man erlebt alles auf eine ganz andere Weise und ist mit Fragen konfrontiert, die man sich bei der beruflichen Tätigkeit in der Praxis nicht stellt.»

Unterstützung und Entlastung
Die Begleitung ihrer Schwiegermutter bis zum Lebensende hat Nadine Hubler geprägt – und sie war der Beweggrund für die Arbeit, der heute ihr «Herzblut» gilt: die palliative Physiotherapie. Ursprünglich waren Traumatologie und Orthopädie die Steckenpferde der 45-Jährigen. Nebst ihrer eigenen Praxistätigkeit in Frick, die sie 2011 mitbegründete, hat Nadine Hubler mehrere Jahre am Universitätsspital Basel gearbeitet. Dort betreute sie Patientinnen und Patienten in der Akutmedizin und bildete zahlreiche Studierende aus. «Ich mochte die Arbeit mit Schrauben und Platten – mit Gewebe, das frisch operiert ist», erinnert sie sich. Noch heute widmet sie einen Teil ihrer Tätigkeit in der eigenen Praxis Physia nahe ihrem heutigen Wohnort in Unterwindisch, die sie gemeinsam mit dem auf Neurologie spezialisierten Berufskollegen Helton Gonçalves führt, diesem «ganz normalen Alltag» der Physiotherapie. Daneben ist Nadine Hubler als palliative Physiotherapeutin in der Region Brugg-Baden unterwegs und macht Hausbesuche.

Was ursprünglich mit einer Anstellung als Fachverantwortliche Physiotherapie Palliative Care in der Palliativstation des Kantonsspitals Baden (KSB) begann, hat sich zu einem Schwerpunkt ihrer selbstständigen Tätigkeit ausgeweitet. Unterwegs zwischen ihrer Praxis und dem Zuhause der Betroffenen begleitet sie Schwerkranke und Sterbende. «Hier sind keine Therabänder oder Hanteln gefragt», weist sie Vorstellungen von herkömmlicher Physiotherapie dezidiert von sich. Vielmehr gehe es um alltägliche Fragen wie die Lagerung von Patientinnen und Patienten, unterstützende Griffe, Atemtherapie und wohltuende Berührungen. «Meine Aufmerksamkeit gilt auch den Angehörigen», sagt die engagierte Fachfrau. Sehe sie, dass jemand überlastet sei – gerade bei Ehepartnern keine Seltenheit – spreche sie das an. «Dann schauen wir gemeinsam, wie wir die Situation leichter machen können.»

Kommunikation und Koordination
Oft muss Nadine Hubler die Angehörigen von Schuld- und Verpflichtungsgefühlen entlasten – oder vom sogenannten Overcaring, der Überfürsorge. Dann erklärt sie, dass es wichtig sei, schwerkranken Menschen so viel Autonomie wie möglich zu lassen – sogar wenn es länger dauere, bis sie sich selbst angezogen oder das Essen eingenommen hätten. Oft ermutigt sie Betroffene, vom vertrauten Zuhause ins Hospiz Aargau zu wechseln – «eine unglaublich wertvolle Institution», wie sie findet. Viele hätten eine falsche Vorstellung von diesem Ort, weiss sie. «Die Betreuung ist hoch professionell und ganzheitlich, die Atmosphäre wertschätzend und fürsorglich. Oft lachen wir und feiern gemeinsam das Leben.»

Im Bereich der Palliativbegleitung wirkt Nadine Hubler innerhalb der Region als Schnittstelle und Vermittlerin zugleich. Gemeinsam mit den professionellen Teams von Spitex, Palliativ-Spitex, KSB und dem Hospiz Aargau begleitet sie ihre Klientinnen und Klienten engmaschig und sorgt so für optimale Kommunikation, Kontinuität und Vertrauen. «Wir informieren uns gegenseitig und fühlen uns den Menschen, die wir betreuen, gemeinsam verpflichtet», sagt sie. Durch den intensiven und direkten Austausch könne zum Beispiel vermieden werden, dass an Krebs erkrankte Menschen einige Stunden auf dem Notfall des KSB warten müssten, bevor sie an die Onkologie überwiesen würden. «Bei Schwerkranken und Sterbenden kann sich der Zustand schnell verschlechtern oder auch wieder verbessern», sagt Nadine Hubler. Dann sei es erleichternd, wenn die Übertritte schnell und unkompliziert funktionierten.

Das Netzwerk der engagierten Physiotherapeutin ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Doch Nadine Hubler hat ihr Ziel noch lang nicht erreicht. In Zukunft will sie sich noch stärker für die Vernetzung und die Unterstützung von Behandlungsketten einsetzen. Deshalb hat sie im Januar das vierjährige Masterstudium in Palliative Care in Angriff genommen – mit dem Ziel, sich auf kantonaler und nationaler Ebene für die oft nach wie vor tabuisierten Themen einzubringen, die ihr zu einem «Herzensanliegen» geworden sind.

Dankbarkeit und Demut
Klar ist: Die Arbeit wird Nadine Hubler so schnell nicht ausgehen. Nebst Familie, Praxistätigkeit und palliativer Physiotherapie engagiert sie sich als Co-Präsidentin für den Quartierladen Unterwindisch. Zudem ist seit bald einem Jahr Magyar-Vizsla-Rüde Iaro an ihrer Seite. Wie bekommt Nadine Hubler das alles unter einen Hut? «Meine beiden Jungs (15 und 17 Jahre), meine Familie und Freunde unterstützen mich sehr», sagt die viel beschäftigte, alleinerziehende Mutter. Es mache ihr nichts aus, selbst am Abend und am Wochenende für ihre Palliativklientinnen und -klienten da zu sein. «Kontinuität und Verbindlichkeit sind wesentliche Pfeiler meiner Arbeit», betont sie. Erholen könne sie sich in den Bergen, beim Gravelbike-Fahren und auf den langen Spaziergängen mit Iaro, der sie zudem bei ihrer Arbeit begleitet. «Seither kommen auch einige Hundefans im Quartier zu mir», erzählt sie lachend.

Ihre Erfahrungen – unter anderem die Zeit als alleinerziehende Mutter – und ihre Arbeit mit verletzten und schwerkranken Menschen hätten ihre Dankbarkeit und Demut gestärkt, sagt Nadine Hubler. «Ich pflege meine Freundschaften intensiver und geniesse die Zeit mit meiner Familie ganz bewusst.» Natürlich sei es für ihr Umfeld nicht immer einfach, wenn sie von einem belastenden Einsatz nach Hause komme und einfach keinen Nerv mehr habe, sich «wegen eines Joghurts» zu streiten. Ihr sei bewusst, dass sie an solchen Tagen emotional und berührbar sei. Hingegen sei es genau das Zulassen dieser Gefühlszustände, das ihre Arbeit ausmache. «Ich bin verletzlicher geworden», konstatiert sie und fügt nach kurzem Nachdenken an: «Wenn ich nicht mehr weinen muss, weil eine Patientin oder ein Patient von mir stirbt, dann ist es höchste Zeit, mit dieser Arbeit aufzuhören.»