Die Lehre von Pneus und Finken

In der Rubrik «Querbeet» beleuchten namhafte Autorinnen und Autoren ein von ihnen gewähltes Thema – und sorgen damit wöchentlich für Inspiration.

Man muss öfter etwas ändern im Leben. Zum Beispiel die Finken wechseln. Nicht die Hausfinken, die können einem, verlieren sie die Form, nur ans Herz wachsen. Wer alte Hausschuhe genau betrachtet – mit Seele –, der muss sie besonders lang hätscheln. Man kaufe sich ein Paar Finken und ein zweites Paar für die Strasse – basta! Das tun verständige Leute. Gerührt schauen sie zu, wie ihre Schuhe, treuste Wegbegleiter ihres angeblich zielgerichteten, à la longue aber wirren Herumlaufens, mit ihnen altern. Van Gogh war ein verständiger Mensch. Er widmete seinen Zeitschuhen ein zeitloses Gemälde. Was jeder materiell Denkende wegschmeisst – ausgelatschte Schuhe –, ist heute, durch van Goghs Augen, Millionen wert. Man muss indes auch Finken ohne jede Poesie wechseln – Autofinken. Hierzulande gibt es einen Sommer und einen Winter, dafür wurden zweierlei Finken erfunden. Ich halte viel von der Cleverness heutiger Pneuentwickler. Vermutlich könnte die Branche längst Allwetterpneus anbieten. Aber die Händler machen mehr Cash mit Saisonfinken. Den Kunden ausserdem Frühlings- und Herbstpneus aufzuschwatzen, wurde sicherlich geprüft – und schweren Herzens verworfen. Man hatte indes eine andere Idee, wie ich beim jüngsten Pneuwechsel erfuhr. Der Händler guckte auf seinen PC und nannte einen Preis. Ich zeigte erstaunt mit dem Daumen aufs Plakat. «Ein Richtwert», sagte der Händler, «inzwischen sind unsere Preise dynamisch.» – Dynamisch? – «Der Preis richtet sich stündlich neu aus.» – Wie beim Fliegen, bei Bahnbilletten, beim Skifahren? – «Richtig.» – Gibt es keinen Schnee, ist Skifahren am günstigsten. – «Korrekt.» – Wechsle ich mitten im Sommer auf Winterpneus, fahre ich am besten. – «Theoretisch. Aber im Sommer haben wir keine Winterpneus am Lager.» Die Seuche mit den «dynamischen Preisen» hat inzwischen manche Branche erfasst. Sie werden das bis zum Exzess treiben und mit der Allmacht von «Logarithmen» entschuldigen, den Schicksalsgöttern der Moderne. Höchste Zeit, ein paar ganz neue Finken aufzuziehen.

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