Max Rudolf machte Vergangenes gegenwärtig

Chronisten führen uns an den Sodbrunnen der Geschichte, Publizisten sorgen für Aufklärung. Max Rudolf war beides. Er starb 96-jährig. Zu Lebzeiten verfasste Max Rudolf heimatkundliche und militärhistorische Publikationen.
Lehrer, Dorfchronist und Militärhistoriker, der Birmenstorfer Max Rudolf. (Bild: Ernst Bannwart)

Etwas überrascht nahmen manche in der Todesanzeige von Max Rudolf dessen zweiten Vornamen «Henry» zur Kenntnis, der zwar auf seiner Geburtsurkunde stand, den er aber nicht gebrauchte. Den Zunamen verdankte er der Mutter, die in jungen Jahren Haushaltshilfe und Gesellschafterin in New York war. Der Sohn kam neben drei Schwestern 1928 als Spross einer Lehrerdynastie zur Welt. Schon der Grossvater unterrichtete in Vordemwald und der Vater in Bottenwil. Max Rudolf wirkte von 1952 bis 1991 als fördernder, aber gestrenger Oberschullehrer in Birmenstorf, nachdem ihm die Nachbargemeinde Mülligen einen leicht jüngeren, frisch diplomierten Mitbewerber mit einem Leichtathletik-Meistertitel vorgezogen hatte.

Der reformierte Pädagoge und das überwiegend katholische Birmenstorf kamen trotz den früher üblichen religiösen dörflichen Reibereien im Grossen und Ganzen ordentlich miteinander aus. Allerdings widersetzte sich Max Rudolf der Anweisung des katholischen Ortspfarrers und Schulpflegepräsidenten, im Klassenzimmer das obligate christliche Kreuzsymbol anzubringen, mit dem Argument, er führe eine konfessionell neutrale, säkulare Schule.

In der neuen Umgebung an der Reuss stiess Max Rudolf auf Flurnamen, die anders klangen als in seiner Heimat an der Uerke. Daraus entstand eine vertiefte Beschäftigung mit Birmenstorf, aus der 1983 eine 600-seitige Ortsgeschichte hervorging, wie sie bis anhin keine andere Aargauer Gemeinde dieser Grösse besass. Auf die Zweitauflage, 1991, folgten ein Dutzend Beiträge zur Heimatkunde, die er im Alleingang recherchierte und publizierte. So zeigte er zum Beispiel aus Urkunden die Besitzungen des Klosters Königsfelden auf, ging den Spuren ausgewanderter Birmenstorfer nach und erinnerte daran, wie die Gemeinde den Zweiten Weltkrieg sowie den Absturz eines verirrten englischen Vicker-Wellington-Bombers am Dorfrand in der Nacht auf den 15. April 1943 erlebte.

Für seine langjährige, beispielhafte Arbeit zur Erforschung, Dokumentation und Vermittlung der Geschichte und Kultur Birmenstorfs und dessen Umgebung wurde Max Rudolf 1997 mit dem 1985 gestifteten Aargauer Heimatschutzpreis ausgezeichnet. Er war der erste Preisträger, dem diese Ehrung als Einzelperson zufiel. Eigentlich hätte er für das, was er in seinem dritten Lebensabschnitt auch auf militärhistorischem Terrain leistete, noch mehr Belohnungen verdient. Doch er war zu bescheiden, um sich ins Rampenlicht zu stellen.

Er kannte jeden Bunker
2023 veröffentlichte der ehemalige Artillerie-Hauptmann Max Rudolf, inzwischen 95 Jahre alt, im Eigenverlag seine letzte 120-seitige Publikation mit dem Titel «Viel Militär im Fricktal 1939–1941». Sie befasste sich mit der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs, die für die Schweiz bis zur Kapitulation Frankreichs, 1940, dauerte und zu General Guisans Reduitstrategie führte. In dieser Zeit marschierte die 3. Division mit Berner Truppen über die Jurahöhen ins Fricktal, um die Armeestellung zwischen Schinberg und Wollberg, von Kaisten bis Frick, drei Kilometer hinter der Rheingrenze, auszubauen.

Schon 1997 hatte Max Rudolf eine Publikation über die Limmatstellung veröffentlicht, die sich von Sargans über Walensee, Zürichsee, Limmat, Bözberg, Hauenstein bis zum Gempenplateau erstreckte. Akribisch dokumentierte er in Wort und Bild, mit Karten, Plänen, Zeichnungen und faksimilierten Dokumenten die bis zum Ende des Kalten Krieges mehr oder weniger geheimen militärischen Anlagen in den Räumen Neuenhof-Dättwil, Baden-Dättwil, Gebenstorf-Gebenstorfer Horn. Durch ausgedehnte Wanderungen und minutiöse Quellenarbeit kannte er jeden Bunker, jede Waffenstellung, jede Panzersperre. Ausser Dienst gestellt, gelten sie inzwischen als Zeitzeugnisse. Rund 100 dieser militärhistorischen Objekte werden jetzt vom Verein Militär- und Festungsmuseum Full-Reuenthal betreut und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Eindrücklicher Nachlass
Dank Max Rudolf weiss die Nachwelt, über welche Verteidigungsanlagen die beiden grössten militärischen Verbände des Aargaus, die 5. Division und die Grenzbrigade 5, im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg verfügten. Seine mehrere Laufmeter lange Gesamtdokumentation steht Forschenden im Aargauer Staatsarchiv zur Verfügung. Bevor er sie dort ablieferte, fasste er die Sammlung in Dutzenden Bundesordnern zusammen und reihte sie auf dem Stubenboden in seinem Haus auf. Dafür musste das Hausinstrument, ein Konzertflügel, weichen. Sein Haus hatte er übrigens ganz allein geplant, nur die Erstellung übernahm einer der beiden örtlichen Baumeister – der reformierte.

Max Rudolf war nicht verheiratet. Keine der ledigen Birmenstorfer Lehrerinnen gab seinem Werben nach. Aber sein Singleleben war durch seine berufliche Tätigkeit und die historisch-publizistischen Interessen, die ihm viele Kontakte verschafften, ausgefüllt. Als sich sein Aktionsradius, alters- und gesundheitsbedingt, verengte, konnte er auf gute Geister zählen. Nach einem Spitalaufenthalt ist er am 12. März 96-jährig im Brugger Pflegezentrum Süssbach gestorben.