Die Abenteuer der Waldschulkinder

Das Klassenzimmer in den Wald verlegt. Der Kinofilm «Von Kindern und Bäumen – ein Jahr in der Waldschule» zeigt eindrückliche Erlebnisse.
Die Filmemacherin Natalie Pfister freut sich über die positiven Rückmeldungen zu ihrem Film. (Bild: isp)

Das Schulzimmer dieser vier- bis achtjährigen Kinder liegt unter Baumkronen im Badener Wald. Die 30 Kinder verbringen nicht nur ihre gesamte Kindergartenzeit, sondern auch die erste und zweite Klasse im Freien. Bei Sonnenschein, Regen und Schnee lernen sie Lesen, Schreiben und Rechnen. Vor allem aber erkunden sie auf eigene Faust den Wald, erleben den Kreislauf der Natur und suchen ihre Rolle in der Gemeinschaft. Über den Zeitraum eines Jahres taucht der Film von Natalie Pfister in den Kosmos einer Waldschule ein und lässt die Kinder zu Wort kommen. Vergangene Woche war Vorpremiere im Kino Trafo. Nach der Vorführung gab es ein aufschlussreiches Gespräch mit der 49-jährigen Filmemacherin.

Natalie Pfister, was hat Sie motiviert, einen solchen Film zu machen?
Kinder haben – wie alle Menschen – ein starkes Bedürfnis, selbstständig etwas zustande zu bringen, und brauchen dafür Gestaltungsfreiraum. Als ehemalige Primarlehrerin machte ich die Erfahrung, dass das in der Schule kaum möglich ist. Mich hat interessiert, wie sich Kinder in einem grossen Freiraum verhalten, was sie damit anfangen, was dabei herauskommt. Die Waldschule bietet einen riesigen Freiraum – und für mich war es die ideale Gelegenheit, in ein Kinderuniversum einzutauchen.

Dreharbeiten können Kinder in ihrem Alltag ablenken oder beeinflussen. Wie sind Sie in dieser Hinsicht vorgegangen, insbesondere vor Ort?
Die wichtigste Aufgabe einer Dokumentarfilmschaffenden ist es, die richtige Form der Beziehung zu ihren Protagonistinnen und Protagonisten zu finden. Ich war am Anfang allein dort und habe die Kamera selbst bedient. Ich wechselte häufig von einer Kindergruppe zur anderen und musste mich deshalb sehr schnell in eine neue Situation einfügen. Auch wenn im Dokumentarfilm stets davon geredet wird, die Protagonistinnen und Protagonisten würden die Kamera vergessen, glaube ich das nicht, zumindest nicht ab einem bestimmten Alter. Ich glaube, es geht darum, dass sie mir als Filmemacherin vertrauen und sie mich deshalb mit der Kamera annehmen. Ich konnte mir in diesem Projekt zudem nicht vorstellen, als Regieperson neben einer Kameraperson zu stehen und dabei zuzuschauen, wie die Kinder gefilmt werden. Sie haben sich oft an mich gerichtet, das Gespräch mit mir gesucht, wenn ich nicht mit der Kamera beschäftigt war. Mehr Aufmerksamkeit hat dann die Tonangel mit ihrem flauschigen Fellüberzug erregt, die später mit dem Tonmeister hinzukam. Die Kinder wollten sie immer streicheln …

Hatten Sie Schwierigkeiten, die Kinder und ihre Eltern davon zu überzeugen, in dem Film mitzuwirken?
Den meisten Eltern gefiel die Idee, dass sie und die Kinder so eine Erinnerung an die Waldschulzeit erhalten. Viele Eltern identifizieren sich stark mit dieser Schule. Einige Eltern waren anfänglich besorgt, dass ich die Kinder allenfalls in ein ungünstiges Licht rücken könnte. Aber im Verlauf der Drehzeit hat sich ein grosses Vertrauen entwickelt. Ich war oft vor Ort, und die Eltern hatten immer wieder Einsätze. So haben sie mitbekommen, wie ich arbeite. Ich glaube, es hat ihnen imponiert, wie viel ich mich mit der Kamera auf den Waldboden hockte oder im Unterholz herumkroch, um auf Augenhöhe der Kinder zu bleiben.

Können Sie den Gesamtaufwand für das Projekt abschätzen? Also Vorbereitung, Drehzeit und Nachbearbeitung.
Meine Überlegungen zu diesem Film starteten Anfang 2021. Seither habe ich praktisch durchgehend daran gearbeitet. Für einen Kinofilm ist das eine relativ kurze Zeit. Das war in dieser Zeitspanne nur möglich, weil die Finanzierung bloss für die Fernsehfassung zustande kam. Hätte ich die Kinofassung ausfinanzieren wollen, hätte es länger gedauert oder vielleicht gar nicht geklappt. Gedreht habe ich an insgesamt 60 Tagen über ein Schuljahr verteilt. Die über 100 Stunden Material habe ich zusammen mit der Editorin Annette Brütsch in sieben Monaten Montage zu einem
Kinofilm verdichtet.

Gab es beim Projekt für Sie Überraschendes?
Nicht die Rolle der beaufsichtigenden Erwachsenen einzunehmen, war gar nicht so einfach. Ab und zu fand ich Aktionen der Kinder etwas heikel. Mit der Zeit merkte ich aber, dass sie ein grossartiges Gespür dafür haben, wie weit sie gehen können. Das ist etwas, das mich fast am meisten überraschte: In der ganzen Zeit, als ich dort war, gab es nie eine ernsthafte Verletzung, obwohl die Kinder mit Taschenmessern, Hämmern und Sägen hantieren.

Konnten Sie während dieser Arbeit Erkenntnisse für sich selbst gewinnen?
Ich habe viel über unser Verhältnis zur Natur, zur Wissenschaft und zur Technik nachgedacht und gelesen. Ist es nicht seltsam, dass wir die bewegungsfreudigen Kinder für den Unterricht zwischen Stuhl und Pult pferchen, sie ständig dazu anhalten müssen, still zu sitzen, und ihnen Arbeitsblätter in die Hand drücken, die sie ohne Bezug zur Praxis ausfüllen sollen? Würden wir die Schule heute neu denken, teilten wir die Kinder heute immer noch in Jahrgangsklassen ein?

Sollten Ihrer Meinung nach alle Kinder im Wald unterrichtet werden?
Nein, es ist unmöglich, dass alle Kinder im Wald lernen. Aber man kann das echte Leben auch rund ums Schulhaus erforschen und dort nicht nur Tieren und Pflanzen, sondern ebenso Menschen begegnen. Menschen, die beispielsweise einen inte­ressanten Beruf ausüben und den Kindern etwas dazu zeigen können. Die Krise der Schule, von der man in letzter Zeit so viel liest, hat sicher mit dem Lehrpersonenmangel zu tun. Aber ich bin überzeugt, dass sie auch damit zusammenhängt, dass die Schule nicht kindgerecht und zeitgemäss ist. Als Erstes müssten die Noten abgeschafft werden.

Ihr Film wurde an den Solothurner Filmtagen gezeigt. Konnten Sie Preise gewinnen, und was hat die Teilnahme bei Ihnen ausgelöst?
Wir konnten in Solothurn eine sehr schöne Premiere feiern. Der riesige Landhaussaal war voll und die Stimmung grossartig. Ich hatte den Eindruck, dass der Film dem Publikum gefallen hat. Vermutlich auch deshalb, weil alle eine Schulvergangenheit haben. Oft ist diese mit unguten Gefühlen und schlechten Erinnerungen verbunden. Ich habe verschiedentlich von Leuten gehört, dass sie ebenfalls lieber im Wald zur Schule gegangen wären.

Das ist Ihr zweiter Dokumentarfilm. Ihr erster – «Ménage à trois» – handelte von einer Senioren-WG in der deutschen Hauptstadt Berlin. Welche Themen interessieren Sie als Filmemacherin, und wie gehen Sie bei der Auswahl vor?
Das ist nach «Familienbruchstück» tatsächlich schon mein dritter Dokumentarfilm. Darin ging es um die verschiedenen Perspektiven einer Scheidungsfamilie. Mein Herz schlägt für gesellschaftspolitische Themen. Ich versuche, mit meinen Filmen das persönliche Erleben und Erfahren unter bestimmten Umständen zu vermitteln und so unter die Oberfläche zu schauen. Ich überlege mir zudem, ob ich einmal einen Film zum Thema Verhältnis zwischen Mensch und Natur machen soll.

Planen Sie bereits konkrete Projekte?
Ja. Ich bin zwar immer noch sehr beschäftigt mit diesem Film, aber sobald die ersten Kinowochen angelaufen sind, widme ich mich meinem nächsten Projekt. Es ist jedoch noch geheim.

Filmstart in den Schweizer Kinos:
Donnerstag, 11. April
Filmdauer: 89 Minuten