Trotzdem singen

In der Rubrik «Querbeet» beleuchten namhafte Autorinnen und Autoren ein von ihnen gewähltes Thema – und sorgen damit wöchentlich für Inspiration.

Angst und Zuversicht und die Feinheiten dazwischen. Und ich möchte Ihnen zeigen, wie grossartig Gedichte sein können, wenn sie mit wenigen einfachen Worten mehr erzählen als manches dicke Buch.

 «I worried», «Ich sorgte mich», heisst der Text der amerikanischen Lyrikerin Mary Oliver (1935–2019), in den ich mit Ihnen eintauchen möchte. Er erscheint mir sehr aktuell. Das Ende einer Gedichtzeile ist mit einem Schrägstrich (/) markiert.

 So beginnt es:
«I worried a lot. Will the garden grow, will the rivers / flow in the right direction, will the earth turn / as it was taught, and if not how shall / I correct it?» Spricht da jemand mit Grössenwahn oder doch eher jemand, der verzweifelt ist?

So sehr, dass er oder sie am liebsten alles kontrollieren möchte: die Pflanzen, die im eigenen Garten wachsen, und auch gleich den Lauf der Flüsse und die Drehung der Erde. «And if not how shall I correct it?» Was für eine absurde Frage! Als wüsste ein Mensch, das Schicksal der ganzen Erde zu «korrigieren». Was für eine wunderbare Art auszudrücken, wie sehr sich Menschen überschätzen. Wie unerfüllbar unser Wunsch nach Kontrolle bleibt. Wie irrational wir werden, wenn wir uns grosse Sorgen machen.

«Was I right, was I wrong, will I be forgiven / can I do better», fährt das Gedicht fort. Fragen, die wir uns alle stellen, zu Recht. Fragen auch, aus denen Ängste wachsen können, wenn man das eigene Leben zu sehr mit fremden Augen bewertet. Mit lauter Sorgen geht es dann weiter (lesen Sie es nach!). Umso überraschender wirkt, wie die damals 75-jährige Autorin ihr Gedicht beendet: «And took my old body / and went out into the morning, / and sang.»

Was für eine Ermutigung! Aber wie kann dieses Trotzdem-Singen gelingen? Das Schönste an Gedichten ist für mich, dass sie uns keine endgültigen Wahrheiten servieren. Es liegt an Ihnen, den offenen Raum mit Gedanken und Lebenserfahrung zu füllen.

malu@warum.space