«Ich möchte anderen Mut machen»

Stefan Keller hat bewegte Jahre hinter sich. Eine Krebserkrankung hat sein Leben drastisch verändert und einiges infrage gestellt.
Stefan Keller anlässlich seines ersten Vortrags letzte Woche in Rütihof. Das Interesse war gross, seine Geschichte lässt aufhorchen und macht betroffen(Bild: isp)

«Nachdem ich meinen Darmkrebs nur knapp überlebt und während dreier Jahre sehr viel erlebt habe, starte ich im Mai mit Vorträgen zu meinem ‹Weg mit Tumor›. Ich spreche dabei nicht nur von meinen Erfahrungen, sondern möchte vor allem Mut machen, auch in ausweglos scheinenden Situationen nie das Vertrauen zu verlieren. Mich hatten die Ärzte aufgegeben, aber ich habe überlebt. Seit meiner Entlassung aus der Reha am 6. Juli 2023 lebe ich als IV-Rentner mit Ergänzungsleistungen ein zufriedenes Leben, trotz einigen Einschränkungen.»

Diese Zeilen erreichten die Redaktion vor einigen Wochen. Inzwischen hat man sich mit dem Verfasser dieses Textes, Stefan Keller, in Verbindung gesetzt. Man trifft sich in Rütihof. Wenn man ihn sieht, deutet äusserlich (fast) nichts darauf hin, dass Kellers Leben noch vor ein paar Jahren ganz anders ausgesehen hat.

Distanz schaffen
Eine Einordnung: Stefan Keller (61) wächst in Fällanden ZH auf und zieht mit seiner zukünftigen Frau in den Aargau. In Rütihof gründen die beiden eine Familie, sie haben zwei Söhne. Keller verwirklicht sich beruflich und findet daneben sogar Zeit, sich ehrenamtlich zu engagieren: als Einwohnerrat der Stadt Baden, Grossrat, Mitglied der Schulpflege der Stadt Baden sowie als Präsident des VCS Aargau. Da Keller ein Machertyp ist, erstaunt es nicht, dass er sich beruflich stark engagiert. So stark, dass er sich verausgabt, im Dauerstress ist, sich selbst überfordert und am Ende schier zusammenklappt. Stefan Keller hat nie gelernt, sich selbst Grenzen zu setzen. Als einzigen Ausweg aus seiner Lage sieht er, Distanz zu schaffen und so zu sich selbst zu finden. Er verlässt seine Familie und die Schweiz, er braucht ein Time-out.

Er lebt ein halbes Jahr lang als Pilger und findet in Wien seinen neuen Lebensmittelpunkt. Keller rappelt sich wieder auf, gründet eine Firma und gibt erneut Vollgas. So kommt es, wie es kommen muss. Keller durchlebt erneut die beinahe gleiche Episode, die sich bereits in der Schweiz abgespielt hat. Der Stress holt ihn auf Neue ein. Nur knapp kann er einen Burn-out abwenden. Stefan Keller tritt auf die Bremse. Er sucht sich eine neue berufliche Herausforderung im Finanzbereich und geht das Leben etwas gemächlicher an. «Endlich hatte ich eine gewisse Balance mit weniger Existenzdruck gefunden, bis zu jenem Tag im Mai 2021.» Dann erhielt er die erschütternde Diagnose «Krebs beim Enddarm – nicht operabel». Bis zu diesem Zeitpunkt verspürte Keller zwar körperliche Beschwerden, beachtete diese aber nicht gross.

In den darauffolgenden zwei Jahren durchläuft Keller die unterschiedlichsten Therapiemethoden aus der Komplementär- sowie der Schulmedizin. Trotzdem wird er immer schwächer. Er wiegt bei einer Grösse von 178 Zentimetern gerade noch 56 Kilogramm, ist auf Morphium sowie auf die Hilfe seiner Lebenspartnerin angewiesen. In dieser Zeit tritt er dem Verein Exit Deutsche Schweiz bei. Mittlerweile hatten die Ärzte ihn aufgegeben.

«Mir wurde klar, dass mein Leben mächtig aus dem Ruder gelaufen ist», bestätigt Keller. «Und nur ich allein konnte das wieder in seine Bahnen lenken. Ein Wendepunkt in meinem Leben.» Stefan Keller beginnt, ein Videotagebuch zu führen, setzt sich mit sich selbst auseinander, reflektiert, macht sich Gedanken über seinen bisherigen Lebenswandel. «Ich war körperlich auf die Hilfe und die Unterstützung anderer angewiesen, innerlich aber bewegte ich mich auf eine Freiheit zu, die ich in dieser Form noch nicht kannte.» Seine Ursprungsfamilie beschliesst, ihn nach Rütihof zu holen. Nach 14 Jahren in Österreich kehrt er – liegend im VW-Bus – in die Schweiz zurück. Eine grosse Operation in der Klinik Hirslanden ZH ist unabdingbar, verläuft aber gut, und Keller schöpft Hoffnung. Seinen 60. Geburtstag verbringt er in der Klinik. Trotz widriger Umstände fühlt es sich an, als sei das sein zweiter tatsächlicher Geburtstag.

Mit der Geschichte auf Tour
Heute ist Stefan Keller zurück im Leben. Seit dem 6. Juli 2023 lebt er wieder in Rütihof, seit Januar 2024 in einer eigenen Wohnung. «Ich habe gelernt, mit dem Tod vor Augen trotzdem ein gutes Leben zu führen. Ich pendle zwischen Wien und Rütihof. Ich lebe in zwei Welten und kann diese so perfekt verbinden. Im Vergleich zu früher fehlt mir zwar oft die Ausdauer, und die Konzentration lässt schneller nach, aber zu 85 Prozent lebe ich ein selbstständiges Leben», sagt Keller. Mittlerweile geht er mit seiner Geschichte auf Vortragstour. Er will anderen Mut machen, die in ähnlichen Lebenssituationen stecken. Stefan Keller hat einen Kurzfilm gedreht und plant, künftig Workshops am Abend anzubieten. Ein Dokumentarfilm ist in Planung, genauso ein Buch. Stefan Keller ist heute einfach nur dankbar, dass er so ein unterstützendes Umfeld hat, und ist tief beeindruckt von allen, die in Pflegeberufen täglich ihr Bestes geben. «Ich gehe heute alles viel gemächlicher an und halte mich gern an die weisen Worte von Albert Einstein, die lauten: ‹Geniesse deine Zeit, denn du lebst nur jetzt und heute. Morgen kannst du gestern nicht nachholen und später kommt früher, als du denkst.›»